Steht der Ukraine eine Revolution bevor?

Foto: Reuters

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Die Nachrichtenagentur „RIA Novosti“ befragte russische Experten, zu welchen Ergebnissen der innenpolitische Kampf in der Ukraine führen könnte, was die Regierung unternehmen kann und was nun aus dem Land wird.

Gleb Pawlowski, Politikwissenschaftler: „Bei diesem Konflikt geht es darum, wer schuld ist, dass Demonstranten zusammengeschlagen wurden, und wer dafür verantwortlich ist (gemeint ist das Auseinandertreiben der Aktivisten in der Nacht vom Freitag auf den Samstag, Anm. d. Red.). Ob die gesamte ukrainische Führung oder nur einzelne Beamte in die Zange genommen werden, ist offen. Es könnte aber leicht die ganze Führung werden. Ich denke, dass Janukowitsch noch die Option in Reserve hat, Asarow (Premierminister der Ukraine, Anm. der Red.) zur Verantwortung zu ziehen und ihn zurücktreten zu lassen. Ich denke, dass diese Option wirklich in Erwägung gezogen wird. Ich denke auch, dass die Opposition sich mit weniger nicht zufrieden geben würde. Wenn Janukowitsch Asarow in dieser Situation beschützen wollte, müsste er selbst dafür geradestehen und würde als lahme Ente gelten."

Wladimir Slatinow, Institut für Sozialpolitische Studien: „In der Ukraine ist eine politische Krise offensichtlich. Sie wurde ausgelöst, weil Janukowitsch seine Wahlversprechen nicht eingehalten hat. Ich möchte daran erinnern, dass die europäische Integration ein Schlüsselpunkt seiner Wahlkampagne war. Und sie war einer der ausschlaggebenden Punkte für seinen Wahlsieg. Er konnte einen großen Teil der gemäßigten Wählerschaft um sich versammeln, weil diese von den ‚Orangenen' enttäuscht war, aber trotzdem die Idee der EU-Integration unterstützte."

Alexandr Sokolow, Leiter der Arbeitsgruppe zur internationalen Zusammenarbeit und der gesellschaftlichen Diplomatie zwischen den Kommissionen der Gesellschaftskammer Russlands: „Die gegenwärtige Situation in der Ukraine ist äußerst beunruhigend. Es wird klar, dass die Anwendung von Gewalt ein großer Fehler war. Denn wenn bisher die Demonstrationen auf dem ‚Majdan' noch unter Parolen zur Außenpolitik der Ukraine stattfanden, kommen jetzt vor allem Menschen hierher, deren Motive mit der Vertreibung der Demonstranten am 1. Dezember zusammenhängen. Die Opposition hat sich gegen Präsident Janukowitsch vereint. Konkret sind zwei Strömungen zusammengeflossen: die der Integrationsbefürworter und die der Menschen, die sich allgemein über die Situation in der Ukraine empören.

Heute sind in der Ukraine viele ausländische Politiker zu Gast, zum Beispiel der Außenminister Schwedens und Regierungsvertreter Polens. Zudem haben die EU und die USA ihre Absichten geäußert, für den Fall, wenn die ukrainische Regierung Gewalt anwendet. Das ist gewissermaßen Erpressung – im Grunde wurde Janukowitsch in eine vielleicht nicht ausweglose, aber doch in eine sehr schwierige Situation gebracht. Was jetzt in der Ukraine passiert, kann sehr schlecht für die Ukraine enden. Nicht für Janukowitsch, sondern für das Land selbst, weil es bis zum Zerfall der Ukraine als Staat kommen kann."

Alexej Makarkin, Vizepräsident des Zentrums für Politische Technologien: „Die Protestaktionen werden sicher weitergeführt werden, allerdings, so glaube ich, werden die wichtigsten Entscheidungen bei Konsultationen und Gesprächen zwischen den Eliten getroffen. Ein Teil der Eliten ist regierungsfreundlich und die Opposition wird von Persönlichkeiten der Elite angeführt. Also werden sie sich irgendwie verständigen. Im Zusammenhang damit erscheinen die Perspektiven von Janukowitsch bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2015 zum jetzigen Zeitpunkt sehr schlecht: Die Hälfte der Ukraine sieht ihn als Feind und selbst ein Teil seiner Unterstützer traut ihm offensichtlich nicht mehr zu, dass er für sie Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen kann."

Pawel Swjatenkow, Politikwissenschaftler: „Es ist ziemlich offensichtlich, dass im Land eine vorrevolutionäre Situation herrscht. Der Entmachtung

Janukowitschs steht nur entgegen, dass die Opposition, ebenso wie der Westen, keine wirklich verfassungswidrige Lösung wünscht. Bei allem emotionalen Reiz, den eine revolutionäre Regierung hätte, ist ganz klar, dass das auf Dauer eine Unterzeichnung des Assoziierungsvertrags mit der EU unmöglich machen würde, ebenso eine längerfristige Amtszeit. Deshalb will man auf legitime Weise an die Macht kommen: die Regierung und den Premierminister absetzen, dann den Rücktritt des Landesoberhaupts erzwingen und eine vorzeitige Wahl stattfinden lassen. Ich denke, die Chance, dass Wiktor Janukowitsch an der Macht bleibt, besteht, aber er müsste sehr starke Eingeständnisse machen und den Assoziierungsvertrag mit der EU unterschreiben. Präsident Janukowitsch hat nur noch wenige Möglichkeiten. Am Wahrscheinlichsten ist, dass er versuchen wird, diesen Volksaufstand im Stillen auszuharren, aber das wird ihm die Opposition nicht erlauben."

 

Dieser Beitrag erschien zuerst bei RIA Novosti.

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