"Was derzeit auf dem Maidan passiert, ist ein Beispiel dafür, was aus den Demonstrationen am Bolotnaja-Platz hätte werden können", sagt Präsident der Stiftung für Demokratieforschung Maksim Grigorjew. Foto: Reuters
Die Proteste in der Ukraine „sind außer Kontrolle geraten“, erklärte der russische Außenminister Sergej Lawrow. Er schlug vor, dass Moskau in den Gesprächen zwischen der Regierung und den Demonstranten, die sich auf dem zentralen Unabhängigkeitsplatz Maidan versammelt haben, vermittelt. Indes glauben russische Experten, dass radikale Gruppierungen, die nationalistische Anschauungen vertreten, für die Ereignisse auf dem Maidan verantwortlich sind.
Die jüngsten Ereignisse in Kiew haben gezeigt, dass die Macht der gemäßigten Gruppierungen in den Reihen der Opposition schwindet. Bei einer solchen Tendenz werden diese eine Regierung, in der sie selbst vertreten sind, nicht erleben. Die Parteispitzen haben buchstäblich in aller Öffentlichkeit die Kontrolle über den radikalen Teil der Opposition verloren,
sodass die Aktivisten nun selbst entscheiden, in welche Richtung sie gehen und gegen wen sie protestieren. Auch Wladimir Klitschkos Versuch, die radikalen Oppositionellen zu stoppen und der Auseinandersetzung mit Streitkräften der Spezialeinheit „Berkut“ (zu Deutsch: „Steinadler“) entgegenzuwirken, war vergebens und führte nur dazu, dass man ihn mit einem Feuerlöscher attackierte. Daher gehen Arsenij Jazenjuk und Oleg Tjagnybok den Aktivisten des „Rechten Flügels“ auch lieber aus dem Weg.
In der Ukraine kam es sogar so weit, dass die Radikalen öffentlich die Chefs der Parlamentsparteien beleidigten und als „Marionetten des Maidans“ beschimpften, die unfähig seien, „die Regierung zu stürzen“. Sie halten sich selbst für die einzige Macht, die „dazu fähig ist, es mit der Regierung aufzunehmen“. Der nächste konsequente Schritt wäre, dass die Bewegung des „Rechten Flügels“ einen Anführer wählt, der die „Oppositions-Troika“ in den Schatten stellt.
Oppositionsallianz zwischen Liberalen und Nationalisten in Russland undenkbar
Sergej Markow, Vizerektor der Plechanow-Wirtschaftsuniversität und Mitglied der russischen Gesellschaftskammer, hält den Zusammenschluss der ukrainischen, prowestlichen Liberalen mit den Nationalisten für gefährlich. Dennoch ist er davon überzeugt, dass „vor unseren Augen derzeit eine Spaltung dieser beiden Gruppierungen vor sich geht“. Gegenüber der Zeitung „Wsgljad“ erläuterte er: „Die jüngsten Auseinandersetzungen stellen diese Allianz in Frage, obwohl die prowestlichen Liberalen bis dato darauf hoffen, dass sie mithilfe der Nationalisten an die Macht kommen.“
Der Experte ist darüber hinaus überzeugt, dass Russland von dieser Bedrohung nicht betroffen sei. „Die Möglichkeit einer Allianz zwischen Nationalisten und Liberalen beruht darauf, dass die Nationalisten in der Ukraine antirussische Ansichten vertreten. In Russland ist so etwas nicht möglich. Allen Theorien nach müssen die Anführer der ‚orangenen Revolution‘ in Russland gleichzeitig eine Unterstützung vonseiten des Westens und vonseiten nationalistisch eingestellter Fraktionen erhalten“, meint Markow.
Maksim Grigorjew, Mitglied der russischen Gesellschaftskammer und Präsident der Stiftung für Demokratieforschung, betont, dass die jüngsten Ereignisse in der Ukraine an jene Proteste von Oppositionellen erinnern, die auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau stattfanden: „Auch am Bolotnaja-Platz haben bewaffnete Menschen die Polizei angegriffen und sie mit Pflastersteinen und Steinen attackiert. Was derzeit auf dem Maidan passiert, ist ein Beispiel dafür, was aus den Demonstrationen am Bolotnaja-Platz hätte werden können, wenn die russische Regierung und die Rechtsschutzorgane nicht Intelligenz und Härte gezeigt hätten. Und gerade wegen dieser strengen und rechtmäßigen Position der russischen Regierung wurde der Bolotnaja-Platz nicht zum Maidan.“
Haben sich die Anführer der Oppositionsbewegung überschätzt?
„Die Proteste in der Ukraine sind ein mahnendes Beispiel für all jene, die sich selbst für Anführer halten und Bewegungen in Gang setzen, die sie ihrer Meinung nach kontrollieren können. Doch irgendwann wird sich herausstellen, dass sie die Situation überhaupt nicht unter Kontrolle haben. Alle erinnern sich noch an die Bilder und Szenen, in denen Herr Klitschko versuchte, seine eigenen Anhänger und die Menschen zu beruhigen, die er auf den Maidan gerufen hatte. Klitschko wäre von seinen eigenen Anhängern fast selbst verprügelt worden“, erinnert der Politologe. Grigorjew findet es nicht verwunderlich, wenn Leute die Kontrolle über eine Situation verlieren, wenn diese aus Übermut verschiedene politische Kräfte, auch extremistische, in ihre Proteste miteinbeziehen.
Georgij Tschischow, Sprecher des Ukrainischen Zentrums für politische
Technologien, betonte, dass die Situation in der Ukraine immer mehr ins Unberechenbare abgleite und meinte des Weiteren in einem Interview mit „gazeta.ru“: „Sowohl die Regierung als auch die Opposition sind sich bewusst, dass die Situation eine völlig unberechenbare Richtung einschlagen könnte. Es wäre möglich, dass in dieser neuen Konstellation weder Platz für die einen noch für die anderen bleibt. Es ist offensichtlich, dass die Proteste in diesen zwei Monaten, in denen sie nun geführt werden, außer Kontrolle geraten sind.“
Der Politologe verwies zudem auf die Worte eines Oppositionschefs, welcher meinte: „Witalij Klitschko hat bereits eingestanden, dass er sich vor einem Bürgerkrieg fürchte. Die Worte ‚ich fürchte mich‘ hätte niemand von diesem Mann jemals erwartet.“ Tschischow schloss darüber hinaus die Möglichkeit eines vorzeitigen Rücktritts des Präsidenten Wiktor Janukowitsch aus und fügte hinzu: „Der Präsident wird diesen Schritt niemals machen. Dasselbe gilt auch für vorgezogene Neuwahlen, denn für Janukowitsch würde sich dadurch eine Parlamentskonstellation ergeben, bei der er sein Amt nicht halten könnte. Er möchte weiterhin Präsident bleiben, doch dafür gibt es keine demokratischen Mittel. Stattdessen versucht man, auf außergewöhnliche Instrumente zurückzugreifen.“
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