Am 18 Februar kam es zu gewaltigen Zusammenstoß im Zentrum von Kiew. Foto: Reuters
Michail Remisow, Präsident des Instituts für nationale Strategie in Moskau, gibt seine Einschätzung der Lage in der Ukraine wieder. Ein Szenario wie in der Ukraine hält er in Russland trotz der Unruhen auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz im vergangenen Jahr für unwahrscheinlich.
Die Unabhängigkeitsbewegung auf dem Majdan-Platz hat mehrere Ursachen. Wie wirken sie sich aufeinander aus?
Michail Remisow: Der Majdan erlebte mehrere Etappen. Die Ablehnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union durch die ukrainische Regierung Ende letzten Jahres war der Auftakt zur ersten Etappe, dem „Euromajdan". Das war nichts weiter als eine Propagandakampagne, die die ukrainische Gesellschaft davon überzeugen sollte, dass eine Assoziation mit der EU sie wirklich näher an Europa bringe. Tatsächlich hätte das Abkommen kaum Vorteile gebracht, weder im kulturellen oder gesellschaftlichen noch im wirtschaftlichen Bereich. Die Hoffnung auf Investitionen ist zum Beispiel weniger begründet als angenommen.
Ist der Erfolg des Euromajdan nur auf eine effektive Propaganda zurückzuführen?
Nein, mit Propaganda alleine ist so ein Erfolg nicht zu erreichen. Im Bewusstsein der ukrainischen Bevölkerung mag ein Minderwertigkeitskomplex verankert sein, man fühlt sich provinziell. Darauf ist der Wunsch nach einem Anschluss an Europa zurückzuführen.
Die ukrainischen Nationalisten, die für eine EU-Anbindung sind, werden von den Intellektuellen unterstützt. Wie kommt das?
Die radikalen Nationalisten auf der Straße mit niedrigem Bildungsniveau mögen sehr weit entfernt von den Intellektuellen sein, was das soziale Milieu angeht. Aber das Bewusstsein der Nationalisten ist durch ukrainische Mythen geprägt und diese werden von den Intellektuellen geschaffen. Insofern ist der Nationalismus auch ein Projekt der Intellektuellen.
Ist die ukrainische Revolution unaufhaltbar?
Nein, aber es hat sich gezeigt, dass die Radikalen des rechten Sektors, die die Unterzeichnung des EU-Abkommens auch gewaltsam erzwingen wollen, nicht von den Anführern des Majdan Klitschko und Tjagnibok kontrolliert werden. Und es scheint so, dass sie deshalb nicht an den Gesprächen teilnehmen. Aber der derzeitige Waffenstillstand könnte ein Zeichen dafür sein, dass die Gespräche unter der Hand weitergeführt werden: Möglicherweise verhandelt der rechte Sektor direkt mit Janukowitsch, möglicherweise haben auch ausländische Geheimdienste einen Einfluss auf die Anführer des rechten Sektors.
Wie groß ist der Einfluss der ukrainischen Oligarchen?
Der Einfluss von Oligarchen ist in der Ukraine so groß wie in keinem anderen Land des postsowjetischen Raums. Es ist kein Zufall, dass die ukrainischen Oligarchen die Hauptgegner der Annäherung zwischen der Ukraine und Russland und des ukrainischen Beitritts zur eurasischen Zollunion sind. Sie befürchten, von russischen Oligarchen übervorteilt zu werden.
Wieso gab es auch Proteste von der Mittelschicht? Das war sowohl auf dem Majdan als auch auf dem Bolotnaja-Platz so.
Die Mittelschicht in der Ukraine ist, wie auch in Russland, eine relativ kleine Gruppe. Das ist keine gesellschaftliche Mehrheit wie im Westen. Aber in den Großstädten ist sie ziemlich repräsentativ.
Eine rationell eingestellte Generation übt hier eine Art des kulturellen Protestes: Wir sind erfolgreich und gebildet und müssen trotzdem Staatsmännern unterstehen, die wir für falsch halten. Dieses Bewusstsein ist ein universelles Protestmotiv in der Konsumkultur. Diese Einstellung hatten vor allem die Protestanten auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau.
Warum wurde der Bolotnaja-Platz nicht zum Symbol wie der Majdan?
Russland hat vernünftiger gehandelt. Außerdem war es nur eine Minderheit, die hier ihre Verbitterung und ihren Hass gegenüber der Staatsmacht gezeigt hat. Auf dem Majdan zeigt sich dieser Hass sehr viel
stärker. Es geht dabei nicht nur um fehlendes Vertrauen in die Regierung oder eine skeptische Einstellung gegenüber der Macht, das gibt es in jedem Land. Es geht um einen angestauten Frust, der es nicht mehr erlaubt, auf die Wahlen im nächsten Jahr zu warten und erst dann den überdrüssigen Präsidenten zu entmachten.
Geht man in Russland mit solchen Situationen skeptischer oder nüchterner als in der Ukraine um?
In Russland scheint das Vertrauen in den Staat stärker ausgeprägt zu sein. Die politische Kultur in der Ukraine hingegen ist anarchistischer. In Russland wird diese Meinung vertreten: Ja, der Staat ist untauglich, aber das ist besser als nichts. Man sollte nur dann etwas abschaffen, wenn man sich sicher sein kann, dass es eine gute Alternative gibt. In einer anarchistisch geprägten Kultur hingegen wird folgende Ansicht vertreten: Schlagen wir erstmal zu und dann sehen wir weiter. Dabei kämpft man sich warm und es entstehen Zusammenhalt, Solidarität und der Pathos des Kampfes.
Kann Russland Lehren aus der Situation auf dem Majdan ziehen?
Die Hauptlehre ist die Folgende: Eine Macht, die keine Grenzen kennt, die die Ausbreitung von auf Familienprinzip und Korruptionsmodellen basierenden Beziehungen zulässt, ist zum Scheitern verurteilt. Eine Macht
ist gefährdet, wenn sie vergisst, dass sie in einem öffentlichen Raum agiert und dass die Bürger alles sehen können. Die Gesellschaft, die sie immer für einen Statisten hielt, kann über Nacht zu einem sehr aktiven Mitspieler werden.
Wie lautet Ihre Prognose für die Majdan-Bewegung?
Ein gewaltsames Vorgehen des ukrainischen Präsidenten wird in Politik und Wirtschaft keine Unterstützung finden. Es wird dem Präsidenten nicht gelingen, die Erklärung des Ausnahmezustands in der Rada durchzubringen. Ohne ein gewaltsames Vorgehen wird es jedoch schwer werden, dass Ruder in der Hand zu behalten. Deswegen wird die Situation meiner Ansicht nach mit den nächsten Wahlen gelöst.
Werden es vorgezogene oder geplante Wahlen sein?
Das ist nicht so wichtig. Der an Russland orientierte Südosten mag einen neutraleren und stärkeren Kandidaten nominieren und vielleicht wird dieser gewählt. Dann stellt sich die Frage, welche Reaktion es seitens der westlichen Gebiete geben wird. Werden sie die Selbstbestimmung verkünden? Wird ein Oppositionsführer gewählt, stellt sich die Frage, wie radikal dieser sein wird. Der westukrainische Nationalismus wird auf jeden Fall eine große Rolle spielen. Der Druck auf den Südosten wird stärker werden.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Rossijskaja Gaseta.
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