Präzedenzfall Krim-Anschluss – Quo vadis Völkerrecht?

Staatsrechtler sehen in einem möglichen Anschluss der Krim an die Russische Föderation einen Präzedenzfall. Foto: Reuters

Staatsrechtler sehen in einem möglichen Anschluss der Krim an die Russische Föderation einen Präzedenzfall. Foto: Reuters

Der Anschluss eines Territoriums eines Staates an einen anderen, ohne die Einwilligung beider Länder, ist seit dem Ende des Kalten Kriegs nicht mehr vorgekommen. Einzig beim Kosovo-Konflikt 1998/99 finden sich Parallelen.

Der Beschluss des Krim-Parlaments, ein Referendum zum Übergang auf das russische Staatsgebiet durchzuführen, ist aus der Perspektive der ukrainischen Verfassung illegitim. In der Verfassung von 2004, die durch den Beschluss des ukrainischen Parlaments Ende Februar wieder in Kraft getreten ist, können Änderungen des Staatsgebiets der Ukraine ausschließlich durch ein gesamtukrainisches Referendum beschlossen werden. Ein gesamtukrainischer Volksentscheid, der allein das Schicksal der Krim entscheiden würde, ist nicht vorgesehen.

In der Verfassung Russlands steht hingegen, dass die Aufnahme in den Bestand der Russischen Föderation und eine Bildung eines neuen Subjekts „durch Regeln bestimmt werden, die in einem föderalen Verfassungsgesetz festgelegt" sind. Das geltende russische Gesetz von 2001 ermöglicht die Gründung eines neuen Subjekts auf dem anzuschließenden Gebiet nur dann, wenn darüber ein Abkommen mit dem Staat besteht, von dem sich das Gebiet abtrennt.

Am 28. Februar 2014 hat jedoch der Chef der Partei „Gerechtes Russland" Sergej Mironow eine Gesetzesinitiative in die Staatsduma eingebracht. Der zufolge soll Russland auch dann Gebiete eines anderen Landes in seine Föderation aufnehmen können, wenn darüber kein internationales, zwischenstaatliches Abkommen besteht. Die Bewohner der „sich abtrennenden Gebiete" müssen jedoch über eine Aufnahme in die Russische Föderation in einem Referendum abstimmen oder die legitime Staatsmacht dieses Gebiets muss sich mit der entsprechenden Bitte an Russland wenden.

Einen solchen Aufruf gibt es bereits: Das Parlament der Halbinsel Krim wandte sich am Donnerstag an Wladimir Putin mit der Frage, ob Russland bereit sei, die Krim in seinen Bestand aufzunehmen. Die Bereitschaft der Krim-Bewohner dazu wird zweifelsohne durch das Referendum bestätigt, das am 16. März 2014 stattfinden soll. Mironow behauptete, dass der von ihm eingebrachte Gesetzesvorschlag bereits in der nächsten Woche von der Duma angenommen werden könne.

 

Eine Frage des Völkerrechts

Das russische Parlament kann viele Gesetze beschließen, über deren politisches Gewicht jedoch haben auch noch andere ein Wörtchen mitzureden. Die zentralen Punkte dabei sind zum einen, ob die internationale Gemeinschaft die Legitimität der Beschlüsse der Russischen Föderation anerkennt und zum zweiten, inwieweit diese Entscheidungen

dem internationalen Völkerrecht entsprechen. Die Antwort auf Punkt eins ist klar, die internationale Gemeinschaft wird sie nicht anerkennen.

Die Antwort zu Punkt zwei hingegen ist nicht ganz so einfach. „Im heutigen internationalen Recht sind zwei gegenläufige Prinzipien festgelegt: Die territoriale Integrität eines Staates einerseits und das Recht auf Selbstbestimmung andererseits", erklärt Maxim Braterskij, Professor am Lehrstuhl für Weltpolitik der Moskauer Higher School of Economics.

Ausgehend von dem Recht einer Nation auf Selbstbestimmung wurde die Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien im Jahre 2008 von der internationalen Gemeinschaft anerkannt. „Kosovo ist ein Spiegel dessen, was wir heute auf der Krim haben", so Braterskij. „Mit dem Einzug der NATO in den Kosovo wurde Serbien gehindert, das Unabhängigkeits-Referendum der Kosovaren zu beeinflussen. Die UNO hatte den Kräften der NATO jedoch gar kein Mandat für eine Kosovo-Operation gegeben!"

Seinerzeit nannte Putin den Präzedenzfall Kosovo äußerst bedenklich und gefährlich und erinnerte, dass ähnliche Probleme auch in Spanien und Belgien existieren. Dennoch wurde 2008 die Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens von Moskau einseitig anerkannt. Wie sich Putin diesmal in der Situation mit der Krim verhalten wird, ist bisher unklar.

 

Hoheitswechsel durch UNO-Eingriff oder freiwillige Übergabe

Trotzdem wird man im Falle der Bereitschaft Moskaus, die Krim als neues Subjekt der Föderation anzuerkennen, von einem neuen Kapitel im Völkerecht sprechen können. Der Anschluss des Gebietes eines Staates ohne das Einverständnis der Führung des Landes, von dem die Territorien abgetrennt werden, wurde seit Ende des Kalten Kriegs nicht mehr praktiziert, unterstreicht Braterskij.

Entscheidungen im beiderseitigen Einvernehmen allerdings sind durchaus vorgekommen. 1997 gab Großbritannien das für 99 Jahre gepachtete Gebiet Hongkong wieder in die Rechtsprechung Chinas zurück. Die Geschichte der letzten Jahrzehnte kennt eher Fälle von nominell unabhängigen Gebieten: Kosovo, Abchasien, Südossetien. 1999 wurde die Unabhängigkeit Osttimors ausgerufen. Die Volksabstimmung, in deren Folge Osttimor seine Unabhängigkeit erlangte, wurde unter dem Druck der

UNO durchgeführt. Unter Mitwirkung der UNO kam es 2011 zu einem Referendum über die Unabhängigkeit des Südsudan. Aus Sicht des internationalen Rechts sei es durchaus legitim, dass Osttimor und Südsudan ihre Unabhängigkeit mit der Unterstützung der UNO erlangen konnten, meint Braterskij.

„Insgesamt beurteilt, funktioniert das System des internationalen Rechts nicht. Es siegt immer noch die Seite, die mehr Bajonette hat", befindet Braterskij. Der Kosovo sei ein anschauliches Beispiel dafür. Das Problem bestehe aber auch darin, dass das internationale Recht immer weniger den realen Tatsachen entspreche. „Es gibt Anzeichen, dass das Konstrukt des heutigen Völkerrechts in den kommenden 10-15 Jahren zusammenbrechen wird. Es sieht so aus, dass im 21. Jahrhundert der Wille von Gebieten nach einer neuen Subjektzugehörigkeit oder einem Protektorat von einer starken Staatlichkeit bestimmt wird. Ich hoffe, dass kein Weltkrieg das Ergebnis dieser Entwicklungen ist", resümiert Braterskij.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Gazeta.ru

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