Wird Russland den Kosovo anerkennen?

Die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs der Vereinten Nationen in Den Haag zum Status des Kosovo vom 22. Juni 2010 schuf einen Präzedenzfall.  Foto: AFP / East News.

Die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs der Vereinten Nationen in Den Haag zum Status des Kosovo vom 22. Juni 2010 schuf einen Präzedenzfall. Foto: AFP / East News.

Der Historiker Pjotr Iskenderow erörtert, ob Russland die Unabhängigkeit des Kosovo anerkennen würde, wenn die westliche Staatengemeinschaft im Gegenzug die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation anerkennen würde.

Der russische Präsident Wladimir Putin stellte in einer Rede klar, dass nur Bürger, die in einem bestimmten Gebiet wohnhaft sind, über ihre Zukunft bestimmen könnten und müssten und dass dies auch für die Bewohner der Krim gelten sollte. Er wies auf den Kosovo-Fall hin, bei dem viele westliche und islamische Staaten die Unabhängigkeit des ehemals zu Serbien gehörenden Kosovo anerkannten: „Wenn zugelassen wurde, dass aus Kosovaren kosovarische Albaner wurden, und wenn Entwicklungen solcher Art überhaupt in vielen Teilen der Welt erlaubt wurden, dann wurde das Selbstbestimmungsrecht der Völker von niemandem abgeschafft", konstatierte der Präsident.

In Expertenkreisen wird nun diskutiert, ob dieser direkte Verweis auf den „Fall Kosovo" eine Andeutung auf einen geopolitischen Deal darstellen könnte: Würde Russland die Unabhängigkeit des Kosovo anerkennen, wenn der Westen im Gegenzug die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation anerkennt?

Gelegenheit zu einem ähnlichen, geopolitischen „Tausch" hat es bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 2008 gegeben, als Russland die Unabhängigkeit der Kaukasusrepubliken Abchasien und Südossetien anerkannte. Damals spielte Russland den Trumpf einer Anerkennung des Kosovo im Tausch gegen die Erreichung eigener Ziele im Kaukasus jedoch nicht aus. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die russische Position, den Kosovo nicht als unabhängigen Staat anzuerkennen, unabänderlich ist. In Putins Worten fehlt zudem jeglicher Vergleich in Bezug auf die Prozesse, die sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten im Kosovo und auf der Krim abspielten. Diese unterscheiden sich in vielen Punkten grundlegend.

 

Kein Widerspruch zu internationalem Recht

Putin spricht lediglich über das Faktum der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo und der Reaktionen darauf seitens des Westens. In seiner Haltung sieht sich Putin durch die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs zum Status des Kosovo im Jahr 2010 bestätigt. In dieser Entscheidung wurde entsprechend internationalem Recht eine derartige, einseitige Unabhängigkeitserklärung anerkannt. „Die internationalen Rechtsnormen

enthalten keine rechtsgültigen Bestimmungen, die eine Unabhängigkeitserklärung einschränken würden. Auf Basis dessen kann festgehalten werden, dass die Erklärung vom 17. Februar 2008 gegen keine internationalen Rechtsnormen verstößt", heißt es in der Entscheidung, die damals vom ehemaligen Präsidenten des Internationalen Gerichtshofs, dem Japaner Hisashi Owada, verlesen wurde. Owada zufolge „beinhaltet das internationale Recht keine anwendbaren Verbote", die eine Unabhängigkeitserklärung verbieten würden.

Dem Dokument ist des Weiteren zu entnehmen, dass der Internationale Gerichtshof die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts oder des Rechts auf Sezession im Fall Kosovo nicht einzeln geprüft habe. Diese Position stimmt gänzlich mit den Argumentationen der USA überein. Noch im Juli 2009 hatte das Weiße Haus dem Internationalen Gerichtshof nämlich Kommentare zur Begutachtung der Situation im Kosovo vorgelegt. Damals gab Washington zudem bekannt, dass „das Rechtsprinzip der territorialen Integrität nichtstaatlichen Einheiten nicht im Wege steht, auf friedlichem Weg ihre Unabhängigkeit zu erklären".

In diesem Kontext sollte auch die Stellungnahme von Walentina Matwienko, Vorsitzende des Föderationsrats der Föderalen Versammlung, gesehen werden: „Ich möchte darauf hinweisen, dass die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs der Vereinten Nationen in Den Haag zum Status des Kosovo vom 22. Juni 2010, welche auf Artikel 1, Punkt 2 der Satzung der Vereinten Nationen basierte, einen Präzedenzfall schuf, laut dem das Mandat der zentralen Behörden zur Durchführung eines Referendums und zur Beantwortung der Frage über die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts durch einen Teil desselben Staates nicht erforderlich ist. Ein Präzedenzfall im internationalen Recht wird zu einem Gesetz. Somit haben die Behörden auf der Krim im Einklang mit dem

internationalen Recht und den Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs gehandelt."

In diesem Sinne entspricht die Entscheidung der Behörden auf der Krim, welche sich besonders auf die Ergebnisse des Referendums stützt, der oben erwähnten Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs zum Status des Kosovo.

Was nun die internationale Anerkennung einer Unabhängigkeitserklärung anbelangt, so ist das eine komplett andere Frage, die von jedem Staat anders im Hinblick auf gewisse Regionen und Territorien behandelt wird. Eben dies hatte Wladimir Putin auch gemeint, als er über die Ähnlichkeit der Entscheidungen, die im Kosovo und auf der Krim getroffen wurden, sprach, und wollte damit auf keinen Fall weitere Schritte Russlands in Bezug auf diese beiden absolut verschiedenen Probleme vorwegnehmen.

 

Mechanismen der Selbstverstärkung in Gang gesetzt

Der renommierte US-amerikanische Journalist und Politologe Thomas Friedman sagte in der Zeitung „The New York Times", dass die USA und der Westen von vornherein einen verwerflichen Kurs in Bezug auf Russland eingenommen hätten. Begonnen hätte dieser Prozess bereits mit der Entscheidung, die Nato zu erweitern. Der Westen reagiere inkonsequent und zeige das Bestreben, weiterhin in einer Welt zu leben, die so nicht mehr existiere.

In der derzeitigen Situation gibt es daher keinen Grund, an der Unabänderlichkeit der Haltung Russlands gegenüber dem Kosovo zu zweifeln. Die Hinweise auf die Ereignisse im Jahr 2008 sind lediglich eine Erinnerung der internationalen Partner an ihre eigenen „doppelten Standards". Des Weiteren steht außer Zweifel, dass sich die Kontroversen über den Sinn und Wortlaut der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs über den Status des Kosovo zuspitzen werden, betrachtet man diese vor dem Hintergrund der Entwicklungen in anderen Regionen der Welt, die Anspruch auf ihr Selbstbestimmungsrecht erheben.

Hier soll zudem auf das berühmte Konzept des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Paul David hingewiesen werden, das eine starke Verbreitung unter anderem auch im Bereich der Politikwissenschaft und der Theorie historischer Prozesse fand. In diesem Konzept gibt David

an, dass „initiale Ereignisse", sogenannte „kritische Verbindungen" eine „spezifische Laufbahn oder auch Ereignisketten" auslösen, „die wiederum den ursprünglich vorgegebenen Weg verstärken, wodurch es im Endeffekt immer schwieriger wird, diesen zu korrigieren". Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Paul Pierson, der ein Vertreter von Davids Konzept ist, ergänzt: Solche Prozesse „generieren Mechanismen der Selbstverstärkung", in deren Folge „jeder Schritt, der in eine bestimmte Richtung unternommen wird, eine Umkehr zum eigentlichen Weg schwieriger macht." Ein solcher Prozess wurde im Jahr 2008 von den westlichen Staaten durch die Anerkennung, und keinesfalls der selbstständigen Proklamation, der Unabhängigkeit des Kosovo in Gang gesetzt. Die Entwicklung der Situation um die Krim ist somit nur eine von vielen Erscheinungen des beschriebenen Prozesses.

 

Dr. Pjotr Iskenderow ist leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für die Erforschung der modernen Balkankrise des Instituts für Slawistik an der Russischen Akademie der Wissenschaften.

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