Ukraine vor Schicksalsfrage: Wie reagiert Russland?

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Russische Politikexperten meinen, die jüngsten Ereignisse in Odessa und im Südosten der Ukraine sollten von Moskau beantwortet werden – von einer diplomatischen Lösung bis hin zu einer Militäroperation der russischen Armee sei alles denkbar.

Die ukrainische Exekutive setzt die militärische Sonderoperation gegen Regierungsgegner weiter fort. Der Sondereinsatz begann am 2. Mai mit dem Sturm auf Slawjansk. Im Zuge dieser Operation starben seit Anfang Mai in der Region Donezk fünf Polizisten, während man aus dem Lager des Volkswiderstands 18 Tote in Slawjansk und im benachbarten Kramatorsk meldete. Gleichzeitig wurden am 2. Mai in Odessa 46 Menschen Opfer eines Zusammenstoßes zwischen militanten Gruppierungen und ukrainischen Bürgern, die für eine ungeteilte Ukraine eintraten.

Die Schuld an den Ereignissen in Odessa gibt der Innenminister der Ukraine Arsen Awakow den städtischen Polizeimitarbeitern und dem Staatsanwalt vor Ort. Awakow schrieb auf seiner Facebook-Seite: „Die Polizei in Odessa hat sich furchtbar verhalten, vielleicht sogar verbrecherisch. Die gesamte Leitung wurde von den Führungsposten entlassen. Es werden Ermittlungen zu ihren Handlungen angestellt."

Inzwischen werde in Odessa ein eigenes „Bataillon für territoriale Sicherheit" aufgebaut, schrieb der Verwaltungschef der Odessa-Region Wladimir Nemirowskij auf Facebook. Zu den Aufgaben der Einheit, die direkt den Behörden Odessas unterstellt werde, gehöre auch die „Wiederherstellung der Legitimität und der Rechtstaatlichkeit in der Region".

 

Katastrophe von Odessa muss aufgeklärt werden

Das russische Außenministerium rügte die Handlungen der Kiewer Behörden, die zu der Tragödie in Odessa geführt haben sollen: „Gemeinsam mit der anhaltenden Strafaktion der Kiewer Machthaber in Slawjansk ist die Tragödie in Odessa ein weiterer Beweis für den verbrecherischen Einsatz von Gewalt und Einschüchterung. Das Vorgehen widerspricht den Vereinbarungen, die aus dem Abkommen vom 21. Februar und dem Genfer Kommuniqué vom 17. April hervorgegangen sind. In Russland ist man empört über das Verbrechen in Odessa. Russland ruft Kiew und seine westlichen Beschützer dazu auf, der blutigen Willkür ein Ende zu setzen und Verantwortung vor dem ukrainischen Volk zu zeigen", so die Mitteilung des Ministeriums.

Dmitrij Orlow, Generaldirektor der Agentur für politische und wirtschaftliche Kommunikation und Mitglied des Höchsten Rats der Regierungspartei „Einiges Russland", meint, dass die jüngsten Ereignisse in der Ukraine Konsequenzen haben sollten: „Die russischen Politiker sollten den Dialog mit der ukrainischen Regierung nur unter zwei Bedingungen vorantreiben: Der sogenannte Anti-Terror-Einsatz und die Gewalt gegenüber friedlichen

Bürgern müssen gestoppt und die Ereignisse in Odessa gründlich untersucht werden." Orlow merkt an, dass zur Ermittlung der Umstände bei der Tragödie in Odessa nicht nur ukrainische Behörden eingesetzt werden sollten, sondern auch unabhängige Beobachter: Vertreter der EU, der OSZE sowie das Ermittlungskomitee der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation seien hinzuzuziehen. „Es gibt zu viele Unklarheiten um die Rolle der Behörden in Odessa. Beispielsweise gibt es das nicht bestätigte Gerücht, dass das Chaos vor Ort von der Regierung gewollt war. Deshalb wird man bei den Ermittlungen auch nichtukrainische Experten brauchen", erklärt Orlow. Von einer militärischen Einmischung Russlands in der Ukraine hält er allerdings nichts; dies sei „ein zu risikoreicher Schritt für Russland".

 

Russlands Ukraine-Politik erfährt Neujustierung

Ein militärischer Weg der Konfliktlösung könne bereits als annehmbar angesehen werden, meint hingegen der Präsident der Stiftung Peterburgskaja politika Michail Winogradow. Die jüngsten Ereignisse in Odessa und im Südosten der Ukraine hätten im Bewusstsein der Menschen eine entsprechende „Emotionswelle" geschaffen. Seiner Ansicht nach unterscheide sich die jetzige Situation auch stark von der vergangenen auf der Krim. „Die Ereignisse in Odessa haben gezeigt, dass eine gewaltfreie Einmischung Russlands immer schwerer zu realisieren ist.

Aber eine militärische Einmischung ist angesichts des internationalen Rechts nicht leicht zu rechtfertigen", räumt der Experte ein.

Winogradow sagt auch, dass Russland bedenken solle, welches Ziel es verfolgt, wenn es auf die Sonderoperation der ukrainischen Exekutive militärisch antwortet: „Wenn wir über den Schutz von Russen reden, dann sollte man bedenken, dass es in der Region Odessa nicht mehr als 25 Prozent von ihnen gibt. Außerdem hat Russland noch nicht so große Erfahrung mit dieser Art der Friedensstiftung."

Auch Pawel Salin, Direktor des Zentrums für politische Forschung an der Finanzuniversität der Regierung Russlands, sieht die Notwendigkeit einer Reaktion auf die Ereignisse in Odessa und Slawjansk. Doch wie diese Reaktion ausfallen wird, entscheide sich erst in den nächsten Tagen. Auch er schließt eine militärische Einmischung Russlands nicht aus – er begründet dies damit, dass sich die Lage in der Ukraine grundlegend gewandelt habe: „Generell kann man die Ereignisse in der Ukraine in zwei Zeitabschnitte teilen: vor Odessa und danach. Während es vor der Brandkatastrophe in Odessa eher Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten, Milizen und Polizisten gegeben hat, wobei nur wenige Tote zu beklagen waren, so haben wir nach Odessa eine neue Stufe erreicht. Die enorme Anzahl der Todesopfer in Kramatorsk und Odessa erweckt den

Eindruck eines vollwertigen Bürgerkriegs", so der Politikwissenschaftler.

Salin erläutert, dass sich Russland damit in einer neuen Situation befinde und auf diese anders reagieren müsse. Diese Reaktion hänge nun von dem Verhalten der ukrainischen Regierung ab. „Wenn Kiew weiterhin denselben Kurs fährt, den es Anfang Mai eingeschlagen hat, und die harte Unterdrückung der Regierungsgegner fortsetzt, wird Russland entsprechend reagieren müssen. Diese Reaktion kann auch als äußerstes Mittel eine militärische Einmischung sein. Wenn die ukrainischen Behörden von ihrem aggressiven Kurs ablässt, wird die russische Seite ihre Bandbreite der Mittel nicht erweitern", bemerkt Salin und fügt an: „Ich denke, dass Russland die Entscheidung in wenigen Tagen treffen und vieles davon abhängen wird, wie die anstehenden Maifeiertage verlaufen werden und was um das Referendum im Südosten der Ukraine herum passieren wird."

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