Kommunalreform: Effizienz auf Kosten der Demokratie?

Russlands Kommunen erhalten mehr Selbstbestimmung – auf Kosten der Bürger. Foto: RIA Novosti

Russlands Kommunen erhalten mehr Selbstbestimmung – auf Kosten der Bürger. Foto: RIA Novosti

Nach der Reform der Kommunalverwaltung können Russlands Kommunen nun selbst bestimmen, nach welchem System sie wählen wollen. Experten sehen darin eine Chance auf mehr Effizienz in der Verwaltungsarbeit, aber auch einen Rückschritt für die Bürger im Hinblick auf die freie Wählbarkeit ihrer Vertreter.

In Russland soll eine Reform der kommunalen Selbstverwaltung durchgeführt werden, die es den sogenannten Rajons gestattet, das jeweilige System zur Organisation und Wahl der kommunalen Selbstverwaltungsbehörden selbst zu bestimmen und eigenständig die Befugnisse zwischen den staatlichen und kommunalen Behörden zu verteilen. Die Reform sieht vier Varianten für Verwaltungssysteme vor, aus denen die Föderationssubjekte wählen können.

 

Reform provoziert Politikverdrossenheit

Die Neuerungen wurden zunächst von den Verwaltungen der Rajons Wolgograd und Moskau übernommen. So gibt es in Moskau zukünftig mehrere Möglichkeiten, den Bürgermeister zu wählen: entweder mittels Direktwahl durch die Bürger oder mittels Wahl durch die Abgeordneten des örtlichen Parlaments. Die Bürger können zudem entscheiden, ob der Bürgermeister nur Leiter der Verwaltungsbehörde sein soll oder auch dem kommunalen Parlament vorsteht. In Wolgograd hingegen werden die Bürgermeister von den Abgeordnetenversammlungen vor Ort aus den eigenen Reihen gewählt und besetzen gleichzeitig den Posten des Parlamentsvorsitzenden. Im Rahmen von öffentlichen Wahlen werden lediglich noch Dorfvorsteher durch die Bürger direkt gewählt.

Alexander Kynjew, Politikwissenschaftler und Fachmann für regionale Prozesse in Russland und den GUS-Staaten, zweifelt am Sinn der Reformen. Aus seiner Sicht wird mit dem neuen System keine Vereinfachung für die Bürger erreicht, was die Initiatoren der Reform aber ursprünglich als Motivation erklärt hatten. „Früher hat die Bevölkerung die Spitze der kommunalen Verwaltung gewählt, das geht nun nicht mehr. Jetzt wissen die Bürger nicht einmal mehr, wer ihr Bürgermeister wird", sagt Kynjew. „Der Bürgermeister hat keinerlei Befugnisse mehr, außer den Abgeordneten der nächsten übergeordneten Ebene zu wählen", führt er weiter aus. Kynjew glaubt, die Effizienz der Kommunalverwaltungen werde dadurch nun noch weiter sinken, und das hätte Auswirkungen auf die sozial-ökonomische Entwicklung der Kommunen und ihrer Bevölkerung. Die Probleme würden sich letztlich auch auf der Ebene der Föderationssubjekte zeigen, die Leidtragenden der Reform seien dann die Gouverneure.

Auch diese werden nicht mehr frei gewählt, sondern mittlerweile durch die Zentralregierung der Russischen Föderation eingesetzt. Als diese Änderung in Kraft trat, sanken die Umfragewerte für die russische Regierung rapide. Eine ähnliche Entwicklung könnte es auch jetzt wieder geben, sagt Kynjew und fügt hinzu, dass bei der Bevölkerung erneut der Eindruck entstehen könne, keinen Einfluss auf das politische Geschehen im Land zu haben. „Politikverdrossenheit könnte die Folge sein", warnt der Experte.

 

Unabhängigkeit von der Zentralregierung

Auch Alexej Skopin, Professor am Lehrstuhl für Regionalwirtschaft und Wirtschaftsgeografie an der Higher School of Economics in Moskau, glaubt, dass die eingeschränkte Wählbarkeit der Volksvertreter weniger Demokratie bedeute. Er sieht aber auch Vorteile im neuen System: Die Verwaltung könne operativer handeln und dadurch mehr wirtschaftliche Probleme lösen. Die Reform sei eine Chance für die Kommunen, zusätzliche Ressourcen zu akquirieren, damit sie sich selbstständig entwickeln können. „Die Veränderungen geben der Verwaltung auf unterster Ebene die Möglichkeit, sich an die übergeordneten regionalen Behörden oder auch an die Investoren selbst zu wenden", erklärt Skopin.

Die Reform ist aus seiner Sicht ein brauchbares Modell, um die Unabhängigkeit der Regionen und ihrer lokalen Behörden vom Föderationszentrum zu fördern. „Die Aufteilung der Befugnisse zwischen

der föderalen, regionalen und lokalen Ebene ist problematisch. Auf föderaler Ebene gibt es sehr viel Geld und nur sehr wenig Verantwortlichkeit, auf regionaler und kommunaler Ebene dagegen ist es genau umgekehrt – mehr Verantwortlichkeit und weniger Geld", so Skopin. Durch das neue System könne Manipulationsversuchen der Zentralbehörden entgegengewirkt werden, glaubt der Experte. Bislang hätten diese die Möglichkeit gehabt, über die Vergabe von Geldern Einfluss auf die Regierung der Region zu nehmen. „Angenommen, den Zentralbehörden gefiele die Regierung einer Region nicht. Dann würde dieser Region einfach weniger Geld zugeteilt, es käme zu Protesten in der Bevölkerung und der Gouverneur würde abgesetzt", beschreibt Skopin eine mögliche Einflussnahme. Mit der Reform könne ein solches Szenario vermieden werden.

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