Ukraine: Wie weit ist es bis zum Kompromiss?

Die Politologen meinen, dass eine echte Waffenruhe in der Ukraine gar nicht realistisch gewesen sei, da weder die eine, noch die andere Seite ihre Verbände unter Kontrolle hätte. Foto: AP

Die Politologen meinen, dass eine echte Waffenruhe in der Ukraine gar nicht realistisch gewesen sei, da weder die eine, noch die andere Seite ihre Verbände unter Kontrolle hätte. Foto: AP

Der ukrainische Präsident Pjotr Poroschenko verkündete das offizielle Ende der Waffenruhe und erklärte, entschlossen gegen die Aufständischen im Südosten der Ukraine vorzugehen. Bedeutet das, dass es keine Aussichten mehr auf eine friedliche Lösung des Konflikts gibt? Experten geben Antworten.

Der ukrainische Präsident Pjotr Poroschenko hat eine Kehrtwende vollzogen. Nachdem zuerst eine Verlängerung der Waffenruhe in den umkämpften Gebieten der Südostukraine im Gespräch war, kündigte er nun ihr Ende an. Während der Waffenruhe gingen die Kampfhandlungen zwischen den Aufständischen und der ukrainischen Armee weiter. Auch Geiselnahmen gab es wieder. Anatolij Kljan, Kameramann des Ersten Kanals des russischen Fernsehens wurde getötet. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind im Juni mehr als 110 000 Bewohner der Ukraine aus dem Krisengebiet in der Ostukraine auf das Territorium Russlands geflüchtet, mehr als 54 000 Personen haben Zuflucht in anderen Regionen der Ukraine gesucht.

 

Eine Waffenruhe, die es nie gab

Der russische Politologe Jewgenij Mintschenko ist der Auffassung, dass es eine Waffenruhe als solche überhaupt nie gegeben habe. „Beide Seiten haben sie lediglich dafür genutzt, um eine Verschnaufpause einlegen und ihre Kräfte umgruppieren zu können“, erklärte Mintschenko.

Der Politologe und Ukraine-Spezialist Andrej Okara geht davon aus, dass eine echte Waffenruhe auch gar nicht realistisch gewesen sei, da weder die eine, noch die andere Seite ihre Verbände in ausreichendem Maße unter Kontrolle hätte. „Die Volksmilizen im Südosten sind eine sehr heterogene Formation. Darunter befinden sich Leute, für die der Krieg ein Geschäft ist, und Menschen mit krimineller Vergangenheit, die Waffen in

die Hände bekommen haben“, sagt er. „Aber manche kämpfen auch aus Überzeugung. Für diese Menschen gelten Russland und insbesondere Putin als Autoritäten“, urteilt der Experte. Dennoch seien sie nicht bereit, sich irgendjemandem bedingungslos unterzuordnen. „Die ukrainische Armee gibt es eigentlich in dieser organisierten Form praktisch erst seit zwei Monaten“, führt er weiter aus. Andrej Okara geht davon aus, dass die ukrainische Armee bald stärker zurückschlagen werde, da sie sich zusehends besser organisieren würde und auch ihre Ausstattung besser werde.


Schlechte Aussichten für den Frieden

Die Idee einer Waffenruhe sei von der ukrainischen Bevölkerung höchst ambivalent aufgenommen worden, und diese Tatsache konnte auch Präsident Poroschenko nicht ignorieren. Am 28. Juni fand in Kiew eine Kundgebung mit mehreren Tausend Teilnehmern statt, die die Einführung des Ausnahmezustandes im Südosten des Landes und die Aufhebung der Waffenruhe forderten, da diese nur zu einer Verschärfung des Krieges führe. Deshalb müsse, so Okara, Poroschenkos Entscheidung zur Aufhebung der Waffenruhe nicht nur vom militärischen, sondern auch vom innenpolitischen Standpunkt aus betrachtet werden.

Mintschenko, der die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen ebenfalls für  einen logischen Schritt hält, schätzt die weiteren Aussichten für den Südosten der Ukraine äußerst pessimistisch ein. „Der Krieg wird weitergehen, die Leute werden schließlich die Region verlassen“, analysiert er. Nach seiner Einschätzung spekulieren die Aufständischen

darauf, die ukrainischen Streitkräfte in  Straßenkämpfe zu verwickeln. Das bedeute, dass die urbane Infrastruktur zerstört wird und führe in der Folge zu einer humanitären Katastrophe. Außerdem hätten die Aktivisten die Möglichkeit, einen Partisanenkrieg zu führen, der sich auch auf das Territorium anderer Regionen ausdehnen könnte. Diese Befürchtungen scheinen durchaus begründet. Während der Präsident der Ukraine sich an das Volk wandte, wurden Sprengstoffanschläge auf Eisenbahnstrecken im Gebiet Donjezk verübt und ebenso im Gebiet Charkow, das eigentlich kein Teil des Krisengebietes ist.


Politische Schlichtung

Unterdessen werden die Versuche einer politischen Schlichtung fortgesetzt. So führten die Außenminister Deutschlands, Frankreichs, Russlands und der Ukraine  mehrstündige Verhandlungen in Berlin. Zur gleichen Zeit setzte die Führung der Europäischen Union Moskau über ihre Bereitschaft in Kenntnis, bei Bedarf unverzüglich die nächste Stufe der Sanktionen gegen Russland zu aktivieren – diese wird sich dann nicht nur auf konkrete Personen, sondern auf ganze Wirtschaftsbereiche erstrecken.

„Eine politische Schlichtung würde zwar Moskau befriedigen, nicht aber die Institutionen, mit denen die russische Führung sich einigen könnte – weder in Kiew, noch in Donjezk“ sagt Mintschenko. Andererseits habe die Europäische Union gerade erst das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine unterzeichnet und sei ebenfalls an der Beilegung des Konfliktes interessiert. Deshalb habe Bundeskanzlerin Angela Merkel angeblich darauf bestanden, dass an den Verhandlungen zwischen den Aufständischen, Moskau und den offiziellen Vertretern der Ukraine auch der ukrainische Politiker Viktor Medwedtschuk teilnimmt. Kiew sei gezwungen gewesen, dem zuzustimmen.

Viktor Medwedtschuk war Chef der Verwaltung des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma. Gegenwärtig ist Medwedtschuk nicht die populärste politische Figur in der Ukraine, verfügt aber über einen sehr guten Ruf bei einflussreichen politischen Hintermännern und Geschäftsleuten. Mehr noch: Aus den Verhandlungen sickerte die Information heraus, dass dort die Ernennung Medwedtschuks zum Gouverneur des Gebietes Donjezk erörtert wurde.

Sowohl Mintschenko, als auch Okara sind der Meinung, dass eine solche Erörterung durchaus logisch und realistisch ist. Auf diese Weise könnten die Interessen Moskaus, wie Okara glaubt, mit den Interessen der ukrainischen Oligarchen, die Kiew nicht ignorieren kann, abgestimmt werden. „In dieser Richtung wäre durchaus ein Kompromiss zwischen allen Seiten denkbar.“

Mintschenko und Okara stimmen darin überein, dass der bewaffnete Widerstand und die Suche nach einem politischen Kompromiss vorerst unabhängig voneinander verlaufen.

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