Gernot Erler zur Ukraine-Krise: „Sanktionen sind nicht in Stein gemeißelt“

Gernot Erler, der Russlandbeauftragte der deutschen Bundesregierung: "Propaganda kann auf beiden Seiten zu irrationalen Handlungen führen." Foto: DPA

Gernot Erler, der Russlandbeauftragte der deutschen Bundesregierung: "Propaganda kann auf beiden Seiten zu irrationalen Handlungen führen." Foto: DPA

Der Koordinator der Bundesregierung für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft, Gernot Erler, fordert im Interview mit RBTH mehr Gesprächsbereitschaft von allen Seiten und beklagt die fehlende Transparenz von Putins Politik.

Gernot Erler ist bereits zum zweiten Mal Russlandbeauftragter der deutschen Bundesregierung. Er war es schon einmal von 2005 bis 2009. Damals wie heute hieß der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). Erler ist seit 1987 im Bundestag, studierte Geschichte und Politik sowie slawische Sprachen, er spricht fließend Russisch.

RBTH: Sie betonen immer wieder, dass es nur eine politische Lösung für die Ukraine gebe und dass „die richtigen Leute“ an den Verhandlungstisch sollten. Wen meinen Sie mit „richtigen Leuten“?

Erler: Ich meine damit, dass wir für Meinungen und Diskussionen aufgeschlossene Leute am Tisch brauchen. Und dann brauchen wir dabei auch anerkannte Institutionen wie zum Beispiel die Vereinten Nationen, also Organisationen, die als „ehrliche Vermittler“, „honest broker“, gelten. Dazu zählt in der gegenwärtigen Situation vielleicht nicht die EU.

Sie unterstreichen im Zusammenhang mit einer politischen Lösung für die Ukraine auch, dass „niemand als Verlierer vom Feld gehen darf“. Wie soll das gehen?

Natürlich will jeder „siegen“. Wir haben einen Konflikt, der vieles von dem, was wir in Europa haben und was wir für etabliert hielten, in Frage gestellt

hat. Wir haben daher einen schwierigen Weg vor uns. Wir brauchen eine nachhaltige Lösung. Wir können einen Dauerkonflikt, einen Konflikt, der sich beliebig fortsetzt, nicht gebrauchen. Es braucht eine politische Lösung. Ein militärischer Erfolg gleich welcher Seite löst diesen Konflikt eben nicht.

Sie fordern, dass sich die Ukraine und Russland über die politische Zukunft der Ukraine einigen sollten. Ist eine solche Forderung momentan realistisch? Warum muss gerade Russland daran teilnehmen?  

Was ist denn die Alternative? Wenn Russland nicht dabei ist – wer soll denn mit wem reden? Es gibt eben viele Hinweise darauf, dass Russland bei dem, was in der Ukraine derzeit geschieht, bereits involviert ist. Auch wenn dies abgestritten wird. Darauf will ich mich aber nicht einlassen. Russland hat vielerlei Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen. Nehmen Sie allein den bilateralen Handel. Russland muss aber auch das Gefühl haben, dass es etwas in seinem Sinne erreicht hat.

Was könnte das denn sein? Und wie könnte denn aus Ihrer Sicht die politische Zukunft der Ukraine aussehen?

Es ist schon jetzt erkennbar, wohin sich die Ukraine in Zukunft bewegen wird. Das geht gen Westen, das Assoziierungsabkommen mit der EU ist unterschrieben. Es kann also nur um eine Regelung des Verhältnisses zwischen der Zentralregierung in Kiew zu den einzelnen Regionen gehen. Dies ist schon seit Langem in der Diskussion. Hier kann man auch einen Mittelweg finden zwischen stärkerer Föderalisierung, was Kiew nicht will, oder stärkere Dezentralisierung. Was aber jetzt auf dem Tisch liegt, weicht nicht weit von den russischen Vorstellungen ab. Da ist beispielsweise von

einer Art Vetorecht der Regionen gegen Pläne der Zentralregierung die Rede, was natürlich von der Regierung heute noch abgelehnt wird. Da könnte schon eher das Modell der Dezentralisierung zum Zuge kommen, mit einer neuen Steuerverteilung und auch Liberalisierung der Sprachenregelung. Das sind Modelle, die könnten die politische Zukunft in der Ukraine weitgehend bestimmen. Dazu müssen aber alle an den Tisch.

Sie beklagen die Unberechenbarkeit der russischen Politik. Wie meinen Sie das und was müsste Russland tun, um berechenbar zu werden?

Das ist ein großes Problem. Russland war in der Vergangenheit deutlich berechenbarer. Wir haben eine Partnerschaft mit Russland. Wenn aber ein Partner nicht berechenbar ist, belastet es die Partnerschaft. Wir wissen bis heute nicht, was die russische Politik und in persona Präsident Putin eigentlich will. Was wirklich in der Ukraine angestrebt wird, erkennen und wissen wir nicht. Das ist eine riesige Herausforderung für unsere Partnerschaft. Dies alles ist in Frage gestellt.

Sie lehnen Wirtschaftssanktionen ab und treten für eine Rückkehr zum partnerschaftlichen Verhältnis zwischen Deutschland und Russland ein. Hat die deutsche Politik diesbezüglich all ihre Möglichkeiten bereits ausgeschöpft?

Die EU ist mit dem Stufenplan sehr behutsam vorgegangen. Zurzeit diskutieren wir über russische Gegensanktionen. Aber wenn wir das zu

Ende denken, sehen wir eine Spirale und wir landen dort, wo wir gar nicht hinwollen. Die EU-Sanktionen laufen automatisch nach einem Jahr aus und werden bis dahin alle drei Monate überprüft. Das weiß auch Moskau. Da ist immer eine Tür für rationale Gespräche und Lösungen offen. Das wissen die Russen. Sanktionen sind eben nicht in Stein gemeißelt.

Sie warnen vor der Wirkung von Propaganda, „die den Blick auf die Realität verstellt“. Meinen Sie damit die Propaganda auf beiden Seiten oder spielen Sie gezielt auf Russland an?

Das ist neben der Unberechenbarkeit der Politik das nächste schwierige Problem. Putin kann sich hier sehr schnell durch seine eigene Propaganda von einem Akteur zum Getriebenen werden. Und die Propaganda ist schon schlimm. Auf beiden Seiten übrigens. Das kann auf beiden Seiten zu irrationalen Handlungen führen. Das hier ist eine gewaltige Propagandaschlacht.

2014/2015 wurde zum Jahr der russischen Sprache und Literatur in Deutschland und zum Jahr der deutschen Sprache und Literatur in Russland ausgerufen. Das hört sich zunächst unpolitisch an. Gibt es

dennoch eine politische Komponente?

Ich freue mich, dass alles funktioniert, und hoffe, dass die gegenwärtige Krise hier nicht störend wirkt. Das kann ich aber leider nicht ausschließen. Dann könnte dieses Kulturjahr zum Opfer der Krise werden. Daher sage ich: Jetzt erst recht! Denn in Russland lernen fast 2,5 Millionen Menschen Deutsch und lesen deutsche Schriftsteller.  

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