Der Zeitpunkt der Verkündung eines Waffenstillstands wurde von Poroschenko wohl nicht zufällig gewählt, vermuten Experten: Im Hinblick auf den Nato-Gipfel in Wales wolle sich der ukrainische Präsident als Friedensstifter positionieren. Foto: Reuters
Der Präsident der Ukraine, Petro Poroschenko, hat, wohl im Anschluss an ein Telefonat mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin, über die offizielle Webseite des ukrainischen Präsidenten und den Kurznachrichtendienst Twitter einen vorläufigen Waffenstillstand im Donezbecken verkündet. „Das Ergebnis des Gesprächs war eine Vereinbarung über einen dauerhaften Waffenstillstand im Donbass. Es besteht ein gegenseitiges Verständnis bezüglich der Schritte, die Frieden herbeiführen können“, lautete die Meldung.
Kreml-Sprecher Dimitrij Peskow bestätigte das Telefonat, äußerte sich jedoch nicht zum Waffenstillstand. Der russische Präsident hätte mit Poroschenko Wege aus der Krise in der Ukraine diskutiert, sagte Peskow. Wie Ria Nowosti später berichtete, erklärte der russische Präsident, dass bei dem für Freitag geplanten nächsten Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe in Minsk ein Abkommen für eine Feuerpause unterzeichnet werden könne.
Die Rebellen im Donbass wissen noch nichts von einem Waffenstillstand. Wladislaw Brig, Pressesprecher des Verteidigungsministeriums der selbsternannten Volksrepublik Donezk, erklärte gegenüber Ria Nowosti, er bezweifle ohnehin, dass alle Divisionen der ukrainischen Armee einen Waffenstillstand einhalten würden. Die ukrainischen Strafbataillone könnten die Befehle Poroschenkos ignorieren, sagte Brig.
Der Waffenstillstand ist überfällig
Pawel Solotarjow, Vizedirektor des USA- und Kanadainstituts an der Russischen Akademie der Wissenschaften, hält eine Waffenstillstandsvereinbarung für längst überfällig. „Eine Vielzahl von innerpolitischen Gründen hat den Präsidenten zu diesem Schritt bewegt“,
glaubt er, „unter anderem die hohen Verluste in seiner Armee und unter der Zivilbevölkerung“. Auch der Führungswechsel in den selbsternannten Volksrepubliken habe eine Rolle bei der Entscheidung Poroschenkos gespielt: „Es ist gut möglich, dass dabei Vertraute des Präsidenten involviert waren. Ich denke, dass diese Frage im Gespräch zwischen Putin und Poroschenko aufkam“, bemerkt der Experte. Eine erhöhte militärische Präsenz der Nato durch französische und US-amerikanische Kriegsschiffe im Schwarzen Meer hingegen hätte für die Abmachung keine Bedeutung: „Diese Schiffe sind nicht zum ersten Mal im Schwarzen Meer unterwegs, das hat keinerlei Einfluss auf die derzeitigen Ereignisse. Das Manöver dient lediglich der Demonstration, inwieweit die Ukraine mit der Unterstützung von Nato-Mitgliedern rechnen kann – Bulgarien, Rumänien, Türkei, Georgien. Russland schreckt das nicht“, sagt Solotarjow.
Der unabhängige Militärexperte Wiktor Litowkin glaubt, Poroschenko hätte keine andere Wahl mehr gehabt, als einen Waffenstillstand vorzuschlagen: „Die ukrainische Armee musste in den letzten Wochen eine Niederlage nach der anderen hinnehmen“, sagte er. Strategische Fehler seien gemacht worden, die ukrainische Armee hätte sich praktisch als „handlungsunfähig“ erwiesen. Die materielle Ausstattung der Streitkräfte des Landes gilt als mangelhaft. Zudem hätte Poroschenko wenig Interesse daran, einen Krieg gegen das eigene Volk zu führen. In der Bevölkerung schwinde die Unterstützung, je mehr Opfer es gebe. Auch sei die wirtschaftliche Lage der Ukraine prekär. „Das Land steht am Rande des wirtschaftlichen Zerfalls“, meint Litowkin. Alles Gründe, die für ein schnelles Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen im Südosten des Landes sprechen.
Der Zeitpunkt der Verkündung eines Waffenstillstands wurde von Poroschenko wohl nicht zufällig gewählt, wie Litowkin vermutet: Im Hinblick
auf den Nato-Gipfel in Wales, der am Donnerstag beginnt, wolle sich der ukrainische Präsident als Friedensstifter positionieren. Allerdings sieht auch Litowkin die Gefahr, dass der Waffenstillstand nicht von allen Seiten eingehalten wird und die Bürgerwehr und die „von Oligarchen finanzierten“ Strafbataillone den Kampf weiter fortsetzen wollten: „Die Aktivitäten der nationalistischen Radikalen in der Ukraine sprechen dagegen, dass sie einen Waffenstillstand einhalten werden“, so Litowkin. Abgesehen davon bleibe der Status der selbsternannten Volksrepubliken ein Thema. Litowkin hält es durchaus für möglich, dass Donezk und Luhansk den Status autonomer Republiken erhalten, mit Russisch als Staatssprache.
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