Politikexperte Fjodor Lukjanow: Russland und der Westen sprechen keine gemeinsame Sprache. Foto: Wladimir Stacheew, RBTH
Der Konflikt in der Ostukraine und seine internationalen Folgen waren Thema einer Vorlesung von Fjodor Lukjanow, einem einflussreichen russischen Politologen, Vorsitzender des Russischen Rats für Außen- und Verteidigungspolitik und Chefredakteur der Zeitschrift „Russland in der Weltpolitik" („Rossija w globalnoj politike"), die er am vergangenen Samstag in der Moskauer Bibliothek für ausländische Literatur hielt.
Lukjanow äußerte in seiner Vorlesung die Hoffnung, dass die gerade begonnene Waffenruhe zwischen den Aufständischen und der ukrainischen Armee stabil bleibt. Ungeachtet dessen, dass noch viele Schwierigkeiten überwunden werden müssten, sollte der Konflikt in der Zukunft mit politischen und nicht militärischen Mitteln gelöst werden, unterstrich er. Die Situation selbst, der Beinahe-Kriegszustand zwischen Russland und der Ukraine, ist laut Lukjanow ein Zeichen des völligen Versagens sowohl der russischen als auch der westlichen und ukrainischen Politik.
Gesellschaftliche Spaltung löste Bürgerkrieg aus
Lukjanow ist überzeugt, dass sich in der Ukraine in den mehr als zwanzig Jahren Unabhängigkeit keine starke Gemeinschaft herausgebildet habe, was der Grund für den Zerfall sei, und vieles hätte zu dem Funken werden können, der die Lunte des Pulverfasses entzündete. Er ist sicher, dass der wahre, tiefere Grund die mit den Jahren gewachsenen Spannungen in der ukrainischen Gesellschaft seien. Und diese bestünden nicht nur aus den Spannungen zwischen dem prorussischen Osten und dem nach Europa strebendem Westen, erklärte Lukjanow, das Ganze sei noch viel komplizierter.
Die ukrainische Gesellschaft sei und bleibe durch viele Faktoren gespalten, dazu zählten auch soziale Faktoren. „In der Ukraine ist die Macht der Oligarchen zur Säule des Staates geworden", sagte Lukjanow. „Sehr auffällig ist, dass der Maidan und die Revolution alles weggefegt und zerstört haben, nur die Oligarchen haben ihre Positionen behalten, und die Personen, die wir heute in der ukrainischen Politik sehen, sind eben jene, die das Land in den letzten zwanzig Jahren dorthin geführt haben, wo es heute steht", merkte der Experte an.
Parallel dazu, so Lukjanow, hätten sich die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen verändert. Russland habe lange nach einer Zusammenarbeit und einem Bund mit dem Westen gestrebt, und Putin, der jetzt als böser Feind des Westens wahrgenommen werde, habe seine Laufbahn als ein Politiker begonnen, der voll und ganz eine Zusammenarbeit mit den USA und Westeuropa wollte. Doch Russland und der Westen hätten letztendlich keine gemeinsame Sprache gefunden.
Kiew hat die Chance einer Einigung verpasst
Lukjanow erläuterte, der Westen habe Russland aufgefordert, sein eigenes Modell zu kopieren, wovon die russischen führenden Politiker nicht begeistert gewesen seien wegen ihrer eigenen Ambitionen und weil
Russland zu speziell sei, um sich zu einem durchschnittlichen europäischen Staat zu entwickeln. Der Mangel an gegenseitigem Verständnis habe zum Scheitern der Versuche einer Annäherung geführt und zu einer Abkühlung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen in dem Moment, als die Krise in der Ukraine begann. Es sei zum „Tauziehen" zwischen Russland und Westeuropa gekommen, jeder habe die Ukraine in seinen Einflussbereich ziehen wollen, meinte Lukjanow.
Die Angliederung der Krim an Russland hält der Experte für einen rein pragmatischen Schritt der russischen Regierung. Für den Fall, dass sich in Kiew ein antirussisches Regime durchsetzen kann – was das Regime, durch das Janukowitsch gestürzt wurde, sei und auch bleiben werde –, hätte man unvermeidlich sehr bald vor der Frage gestanden, ob man die Schwarzmeerflotte aus Sewastopol abziehen müsse. „Aufgrund verschiedener Umstände, die nichts mit der Ukraine zu tun haben, sieht Russland keine Möglichkeit, die Krim zu verlassen und seine Stützpunkte im Süden zu verlieren", stellte der Politologe klar.
Wie Lukjanow es sieht, habe nach der Angliederung der Krim ein Dominoeffekt eingesetzt, den die Regierung in Kiew selbst ausgelöst hätte: Statt sofort zu versuchen, das Land zu einen, hätten sie sich selbst nicht konstruktiv verhalten und die Logik „Der Maidan hat gesiegt, und diejenigen, die gegen den Maidan sind, sollen den Mund halten" verfolgt. Dies habe zu Empörung im Osten des Landes geführt und sei zu Widerstand angewachsen, in den Russland unweigerlich hineingezogen worden sei. Das Ergebnis sei Blutvergießen gewesen, so Lukjanow.
Wird Russland wieder sowjetisch?
Der Experte ist der Auffassung, dass die Situation in der Ukraine von der russischen Regierung niemals vorher hätte geplant werden können. Sie habe
auf die sich ständig unerwartet verändernde Situation reagieren müssen, erklärte Lukjanow. Russland sei an einem Punkt angekommen, an dem man eine grundlegende Entscheidung habe treffen müssen. „Es ist der Versuch, mental an die ‚Weggabelung' zurückzukehren, die wir in den achtziger Jahren bereits überschritten haben, als Gorbatschow die Linie der Zusammenarbeit mit dem Westen wählte."
Da dieses Modell nun zu merkwürdigen Resultaten geführt habe, sei, in erster Linie bei der russischen Regierung, der Wunsch aufgekommen, zu dieser „Weggabelung" zurückzukehren und den anderen Weg einzuschlagen, den der Festigung des Staates, des Prestiges und so weiter. Lukjanow zweifelt, dass dies der richtige Ansatz sei. Es sei unmöglich, in die Vergangenheit zurückzukehren, bemerkte der Experte. Die Zeit werde zeigen, ob Russland den einen oder anderen Weg einschlagen könne, doch auf beiden würden wohl „noch viele Katastrophen" lauern.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!