Tschetschenien: Jelzins „kleiner“ Krieg

Ein tschetschenischer Kämpfer im Dezember 1994. Foto: Igor Muchajew/RIA Novosti

Ein tschetschenischer Kämpfer im Dezember 1994. Foto: Igor Muchajew/RIA Novosti

Im Dezember 1994 intervenierte das russische Militär in Tschetschenien. Ein jahrelanger Krieg forderte zahlreiche Menschenleben und wirkte lange in der russischen Politik und im Alltag nach. RBTH erinnert an den Ausbruch des ersten Tschetschenienkrieges vor zwanzig Jahren.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es in einigen Teilrepubliken massive separatistische Bestrebungen. Die Tschetschenische Republik erklärte schließlich ihre Unabhängigkeit und gab sich den Namen „Tschetschenische Republik Itschkerien". Zu ihrem Präsidenten wurde Generalmajor a.D. Dschochar Dudajew.

Das russische Militär war zu diesem Zeitpunkt bereits aus der Republik abgezogen worden, aber es blieben riesige Vorräte an Waffen und Militärtechnik zurück. „Damals herrschte in Tschetschenien Willkür. Die radikale Stimmung in Verbindung mit Waffenvorräten stellten eine Gefahr für den gesamten Kaukasus und auch für Russland dar", erinnert sich Iwan Rybkin, der in den Jahren 1994 bis 1996 Vorsitzender der Staatsduma war. Der Staat befürchtete, dass andere Teilrepubliken dem Beispiel Tschetscheniens folgen würden.

Für die Vorbereitung eines Militäreinsatzes war kaum Zeit. Am 11. Dezember 1994 marschierten russische Truppen jedoch im Westen, Norden und Osten Tschetscheniens ein. Ursprünglich plante man, die Republik in zwei Stunden zu erobern, doch die Soldaten stießen auf erbitterten Widerstand. Am Ende dauerte der Krieg zwei Jahre an.

Warum kam es zur militärischen Intervention? Bei der Ursachenforschung sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass Tschetschenien als ölverarbeitende Region von zentraler Bedeutung für die russische Wirtschaft war. „1992 erhielt Tschetschenien über Pipelines mehr als sechs Millionen Tonnen Erdöl, das dort verarbeitet werden sollte. Anschließend wurden die fertigen Produkte entweder an Privatunternehmen geliefert oder exportiert. Anzunehmen war auch, dass Tschetschenien für Steuerhinterziehungen genutzt wurde", schreibt Alexander Tscherkassow, Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Memorial in seinem Buch „Tschetschenien. Ein Leben im Krieg".

Iwan Rybkin ist der Ansicht, dass Moskau die Unabhängigkeit dieser Republik nicht zulassen konnte, auch weil Tschetschenien eine Gefahr für die nationale Sicherheit Russlands darstellte: „Es gab Provokationen, Menschen wurden entführt und in riesigen Mengen Gelder entwendet, unter anderem aus russischen Banken mithilfe gefälschter Unterlagen. Die Grenzen der Republik wurden nicht überwacht."

Nach Aussagen des damaligen Vorsitzenden des Obersten Sowjets der Russischen Föderation, Ruslan Chasbulatow, der 1994 an der Spitze der sogenannten „Friedensmission" in Tschetschenien stand, hätte ein Einmarsch der Truppen aber vermieden werden können. „Man hatte mich überredet, dorthin zu fahren, um Dudajew zum Rücktritt zu bewegen, und wir wären fast erfolgreich gewesen. Er hatte sich bereits auf Verhandlungen eingelassen, doch plötzlich ließ der Kreml Truppen einmarschieren."

„Ein kleiner siegreicher Krieg"

Russland habe keine eindeutigen Ziele gehabt – das sei das Hauptproblem des ersten Tschetschenienkrieges gewesen, meint der Politikwissenschaftler Gleb Pawlowski, Direktor des Fonds für effiziente Politik. Im Laufe des Jahres 1994 sank die Beliebtheit des damaligen Präsidenten Boris Jelzin in Umfragen auf drei Prozent. Das sei der Hauptgrund für den Krieg gewesen, glaubt Pawlowski. „Wir brauchen einen kleinen, siegreichen Krieg, um die Umfrageergebnisse des Präsidenten zu heben", soll Oleg Lobow, damaliger Sicherheitsberater Jelzins, gesagt haben. Die berühmte Aussage ist mittlerweile ein Zitat vom russischen Innenminister Wjatscheslaw von Plehwe, der 1904 vor dem russisch-japanischen Krieg gesagt hat: "Um die Revolution zu vermeiden, braucht Russland einene kleinen siegreichen Krieg". 

Russland gelang es jedoch nicht, den Widerstand der Separatisten schnell zu brechen. Tschetschenische Kämpfer gingen mit Panzerfäusten gegen die russische Artillerie vor, die Überlebenden wurden gefangengenommen.

Der Krieg dauerte weitere anderthalb Jahre. Nach der Besetzung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny nahmen die russischen Truppen „Säuberungen" unter der Bevölkerung vor. Es kam zu Luftangriffen und Artilleriebeschüssen. Das Ausmaß der Zerstörungen in der Stadt war katastrophal. Nach Schätzungen von Memorial starben auf tschetschenischer Seite bis zu 50 000 Zivilisten, die russischen Truppen hatten über 5 000 Gefallene zu beklagen. Unbekannt ist, wie groß die Verluste der Rebellen waren. Als Reaktion auf die Kriegshandlungen Russlands nahm im gesamten Land die Zahl der Terroranschläge zu, die von den Aufständischen organisiert wurden.

Allein in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn verließen mehr als 300 000 Menschen die Republik, von denen einige als Flüchtlinge anerkannt wurden und später nach Tschetschenien heimkehren konnten. Die meisten waren gezwungen, noch einmal ganz von vorne zu beginnen.

Das Ende der Demokratie

Der erste Tschetschenienkrieg hätte der russischen Bevölkerung noch mehr das Gefühl gegeben, dass ihr Land zerfalle, glaubt Pawlowski. „Obwohl dieses Gefühl im Laufe der Zeit keine Bestätigung fand, wurde es zu einem ausschlaggebenden Faktor, der sich auf den gesamten politischen Prozess auswirkte", sagt der Politikwissenschaftler. „Die Terrorgefahr, die als tschetschenisch bezeichnet wurde, jedoch international war, prägte sich im Kollektivbewusstsein ein. Das markanteste Beispiel waren Schamil Bassajew und dessen Terroranschläge, die landesweit ausgeübt wurden. Dies weckte ein paar Jahre später bei der Öffentlichkeit die Bereitschaft, in den Kampf zu ziehen", sagt Pawlowski.

Im Zuge der Ereignisse in Tschetschenien wurde ein Großteil der russischen Regierung ausgewechselt und Vertreter von Geheimdiensten und Armee übernahmen das Kommando. Die Folge waren einschneidende Einschränkungen der Meinungsfreiheit und eine gravierende Zunahme von Kriminalität und Korruption. „Zehntausende Militärs, die aus allen Regionen des Landes in den Krieg geschickt worden waren, kehrten als Kriminelle heim und begannen, organisierte Verbrecherbanden zu bilden. Um die Kriegslieferungen, die Versorgung und die Wiederherstellungsarbeiten blühte eine Korruption in gewaltigen Ausmaßen auf", erinnert sich Chasbulatow. „Nach dem ersten Tschetschenienkrieg hatte sich das Land vollständig von demokratischen Grundsätzen abgewandt."

Der erste Tschetschenienkrieg endete im August 1996. Die russischen Truppen verließen die Republik. Der Friede hielt jedoch nur drei Jahre: 1999 begann der zweite Tschetschenienkrieg.

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