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Für den Staat ist die Religion immer eine Herausforderung, das zumindest glaubt Nikolaj Silajew, leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für Kaukasus-Fragen und regionale Sicherheit am Staatlichen Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO). „Der Glaube an eine Religion bedeutet immer auch ein gewisses Maß an Illoyalität dem Staat gegenüber und eine gewisse Nichtanerkennung seiner Autorität", erklärt er.
Ilschat Sajetow, Direktor des Russisch-Türkischen Wissenschaftszentrums an der Bibliothek für Ausländische Literatur, schlägt dennoch vor, religiösen Gemeinschaften mehr Selbstbestimmungsrechte zu gewähren: „Notwendig ist eine breite Diskussion über ein Millet-System", findet er. Das Millet-System im Osmanischen Reich räumte anerkannten religiösen Minderheiten eine gewisse Souveränität ein. Sajetow hält das auch in der gegenwärtigen Situation für eine diskussionswürdige Möglichkeit und betont: „In Russland verfügen wir über viel Erfahrung mit Sonderrechten für religiöse Gemeinschaften. Auch in Großbritannien gibt es bereits fakultative Scharia-Gerichte zu Ehe- und Erbschaftsfragen. Wer zum Beispiel will, dass sein Erbe nach den Regeln des Islam aufgeteilt wird, geht zu diesem Gericht."
Zugleich hält Sajetow diese Lösung für nicht ganz unproblematisch, denn es stelle sich dabei die Frage zwischen dem Verhältnis solcher Sonderrechte zum universellen Recht eines Staates, gibt er zu bedenken. Er betrachtet dies als die Schlüsselfrage der gesamten Diskussion, denn faktisch wäre die Einführung von christlichen, jüdischen und Scharia-Gerichten eine Loslösung vom Konzept eines universellen Rechts, das für alle gleichermaßen gilt, meint Sajetow.
Kampf zwischen Säkularstaat und Religion
Frankreich und die Europäische Union haben in der Vergangenheit versucht, die Muslime zu integrieren, sagt Nikolaj Silajew, etwa indem muslimischen Gemeinden ein Selbstverwaltungsrecht gewährt und den Muslimen die Annahme der Staatsbürgerschaft erleichtert worden sei. Doch das habe nicht ausgereicht, stellt Silajew fest: Die muslimische Jugend zeige sich nonkonformistisch, die Polizei mische sich zu wenig in Angelegenheiten der Muslime ein und die Medien reagierten zurückhaltend, wenn es darum gehe, Probleme in muslimischen Gemeinden anzusprechen, aus Angst, als intolerant zu gelten, meint er. Das hätte, so Silajew, zu einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Islam in der europäischen Bevölkerung geführt und zu einem wachsenden Radikalismus auf beiden Seiten. Europäische Werte würden den islamischen gegenübergestellt.
Igor Alexejew, Islamwissenschaftler und Leiter wissenschaftlicher Programme der Mardjani-Stiftung, sieht daher auch weniger einen Konflikt der Religionen, hier zwischen dem Islam und dem Christentum, sondern den
eines säkularen gegen einen religiösen Fundamentalismus. „Der Terroranschlag von Paris wird zu einer Stärkung und Radikalisierung von rechtskonservativen Kräften, von säkularen Nationalisten und liberalen Fundamentalisten führen, zu einem Angriff auf die Ideologie der Toleranz und des Multikulturalismus, einer Abwendung vom Neokolonialismus zu einer direkten kolonialen Einmischung in der islamischen Welt unter der Fahne der Terrorbekämpfung", befürchtet Alexejew.
„Eine solche Radikalisierung wird die in Europa bestehenden politischen Systeme und Traditionen wie Toleranz, Kompromissbereitschaft und Gewaltfreiheit gefährden, zumindest in Bezug auf die eigenen Bürger", glaubt Dmitrij Suslow, Vizedirektor des Zentrums für europäische und internationale Studien, und warnt: „Am Ende dieser Radikalisierung könnte die Zerschlagung der europäischen Demokratien und ihrer Sozialsysteme stehen."
Ungeschriebenes Gesetz gegenseitigen Respekts
In Russland, wo Islam und Christentum bereits seit Jahrhunderten koexistieren, gibt es eine eigene Herangehensweise, die dazu beiträgt, Radikalisierung zu vermeiden. „Es gibt so etwas wie einen ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag: Die jeweils andere Religion wird nicht angetastet", erläutert Nikolaj Silajew. Vielleicht spricht sich deshalb nur knapp über die Hälfte (54 Prozent) der Hörer des als liberal geltenden russischen Radiosenders Echo Moskwy in einer Umfrage für islamkritische Karikaturen
in der russischen Presse aus.
Wie lange das noch so sein wird, ist ungewiss, denn das Nebeneinander von Staat und Islam ist auch in Russland nicht vollkommen. „Die nordkaukasischen Republiken leben im Grunde ihr eigenes Leben und sind von dem russischen Kulturidentifikationsraum losgelöst. Bisher wird das durch die Loyalität der lokalen Eliten gegenüber dem Kreml kompensiert, doch diese Situation wird nicht für die Ewigkeit sein", bemerkt Dmitrij Suslow.
Doch noch ermöglicht sie die Aufrechterhaltung einer relativen Stabilität. Wenn Echo Moskwy oder die Zeitung „Nowaja gaseta" die Religionsführer im Nordkaukasus kritisieren, müssen sie das nicht mit dem Leben bezahlen. Auch zum Beispiel das Hijab-Verbot in der südrussischen Region Stawropol hat nicht zu Massenprotesten geführt, schon gar nicht zu gewalttätigen.
Russland verfolgt zwei Strategien im Umgang mit Religionsgemeinschaften. „Der Staat versucht immer, den Islam zu integrieren und ihn für sich transparent und verständlich zu machen", erläutert Nikolaj Silajew und empfiehlt ein solches Vorgehen auch den Europäern. „Islamische Bildung
kann unter staatlicher Kontrolle stattfinden. Der Islam kann bürokratisiert werden und muslimische Gemeinden den Kirchenstatus erhalten", führt Silajew weiter aus.
Doch eine Assimilierung und Bürokratisierung alleine wird ineffektiv sein, wenn die Muslime nicht vor dem Einfluss radikaler Fundamentalisten geschützt werden, die sowohl innerhalb der EU als auch außerhalb ihrer Grenzen predigen, mahnen die Experten. Genau deshalb wird ihrer Meinung nach die EU parallel zur Politik der Assimilierung ihre Sicherheitsmaßnahmen erhöhen müssen. Diese sind bislang nicht effektiv genug, wenn es zum Beispiel darum geht, europäische Dschihadisten zu identifizieren, und auch die Anschläge auf die Redaktion von „Charlie Hebdo" konnten sie nicht verhindern. Diese Maßnahmen müssten nicht das Ausmaß des US-amerikanischen „USA Patriot Act" annehmen, aber auf ein Stück ihrer Freiheit müssten die Europäer nach Ansicht russischer Experten für ihre Sicherheit wohl verzichten.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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