Tschetschenien wird zum Zentrum des muslimischen Protests

Die Menschen in Grosny protestieren gegen Mohammed-Karikaturen der Zeitschrift "Charli Hebdo". Foto: Waleri Matizyn/TASS

Die Menschen in Grosny protestieren gegen Mohammed-Karikaturen der Zeitschrift "Charli Hebdo". Foto: Waleri Matizyn/TASS

Rund eine Million Menschen demonstrierten am Montag in Grosny gegen die erneute Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen in der französischen Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“. Organisiert wurde die Veranstaltung vom tschetschenischen Präsidenten. Einige Experten erwarten nun, dass sich Russland in der Streitfrage klar positionieren wird.

Nach Schätzungen von Polizei und Regierung waren es rund eine Million Menschen, die am Montag in Tschetscheniens Hauptstadt Grosny zu einer Protestkundgebung zusammenkamen. Sie demonstrierten gegen die erneute Veröffentlichung von Karikaturen des Propheten Mohammed in der französischen Satirezeitschrift „Charlie Hebdo", nachdem bei einem Anschlag auf die Redaktion des Blatts durch radikale Muslime vor zwei Wochen zwölf Mitarbeiter getötet wurden. Die Teilnehmer der Kundgebung marschierten vom Minutka-Platz bis zur Achmat-Kadyrow-Moschee, wo dann ein gemeinsames Gebet stattfand.

Ramsan Kadyrow, Präsident Tschetscheniens und Initiator der Veranstaltung, sagte den Versammelten von der Bühne aus, dass Beleidigungen des Propheten nicht hinnehmbar seien: „Wir werden es nicht ungestraft lassen, dass der Name des Propheten geschändet wird. Wir sehen alle, dass europäische Journalisten und Politiker unter der falschen Losung der Meinungsfreiheit und der Demokratie die Freiheit der Grobheit, der Kulturlosigkeit und die Verletzung religiöser Gefühle predigen." Weiter empörte er sich: „Über welche Meinungsfreiheit reden sie?" Russland hätte den Terror Amerikas und Europas gegen Syrien und den Irak sowie die Provokation des Kriegs in der Ukraine verurteilt, „während die Länder des Westens und die USA Sanktionen gegen Russland angewandt haben. Über welche Meinungsfreiheit reden sie also?"

Auch Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche sollen an der Kundgebung teilgenommen haben. Zuvor hatte es bereits in Inguschetien, einer weiteren kaukasischen Republik, eine vergleichbare Veranstaltung gegeben. An ihr beteiligten sich mehr als 20 000 Menschen.

 

Experten sind sich uneins

Experten diskutieren nun die Frage, welche Auswirkungen die große Empörung der Muslime in Tschetschenien haben wird. Der Mufti von Moskau und der Zentralregion Albir Krganow beispielsweise ist überzeugt, dass es in Russland keine gewalttätigen Ausschreitungen geben werde. „Terroranschläge sind inakzeptabel, aber gleichzeitig müssen auch Meinungsfreiheit und das Recht auf Selbstverwirklichung im Einklang sein", findet Krganow. „Das Gesetz zur Verletzung der Gefühle von Gläubigen hilft dem Land, eine Balance zu halten." Er hofft, dass die Ereignisse in Tschetschenien nicht als eine politische Handlung, sondern als großes Gebet angesehen werden.

Mit dieser Einschätzung ist Nikolaj Schaburow, Direktor des Zentrums für Religionsforschung der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau, nicht einverstanden. Wenn es nur um religiöse Diskussionen gegangen wäre, so hätten alle Gespräche in Moscheen stattgefunden, glaubt er. „Man muss sich hier bewusst sein, dass Religion in diesem Fall in Politik übergeht und man die Bereiche nicht getrennt

voneinander betrachten darf", erläutert Schaburow gegenüber RBTH. „Die große Zahl der Teilnehmer erklärt sich dadurch, dass es eine Anweisung Kadyrows gegeben hat. Er verfügt in der Republik über absolute Macht." In anderen russischen muslimisch-geprägten Regionen sei eine so große Demonstration nicht denkbar.

Der Politikwissenschaftler Georgij Mirskij widerspricht seinerseits Schaburow. Er merkt an, dass islamische Traditionen in den einzelnen Regionen von unterschiedlicher Bedeutung seien. Im Kaukasus spiele der Islam eine große Rolle im alltäglichen Leben, während in Tatarstan die Menschen europäisiert seien und die Religion eine untergeordnete Position einnehme. „Die muslimische Gemeinschaft ist allgemein empört, aber zu unterschiedlichen Graden. Alles hängt von den Traditionen des Landes, dem Temperament und dem Bildungsniveau ab", glaubt Mirskij. „In der Mehrzahl der arabischen Länder gab es öffentliche Proteste und Grosny ist hier Teil der gesamten Empörungswelle."

 

Eine Demonstration mit vielen Zielen

Der Politologe Mirskij vermutet hinter der Kundgebung auch politisches Kalkül. Im Unterschied zu den Demonstrationen in anderen Ländern sei als Organisator und Anführer nicht etwa eine religiöse Persönlichkeit aufgetreten, sondern das Oberhaupt der Republik. Dabei stilisierte sich Kadyrow nicht nur als Organisator, sondern auch als Kopf der Bewegung, wie Mirskij ausführt: „Er hat beschlossen, im Namen aller russischen Muslime aufzutreten, und schlägt damit zwei Fliegen mit einer Klappe: Er wird zu einer bedeutenden Figur für die weltweite muslimische Gesellschaft und demonstriert Moskau seine Macht. Welches Oberhaupt einer russischen Region sonst kann binnen so kurzer Zeit eine Demonstration solchen Ausmaßes zusammenbringen?"

Dass der tschetschenische Präsident in der Russischen Föderation eine besondere Stellung innehabe, habe auch die Anwesenheit von Vertretern

verschiedener anderer Kaukasusrepubliken an der Kundgebung gezeigt. Das mache Kadyrow zum Anführer der gesamten Region und nicht nur einer Republik, betont Mirskij. Abgesehen von einer persönlichen Machtdemonstration sieht der Politologe auch eine noch größere Dimension. Alle Ereignisse seit dem Anschlag in Frankreich deuteten auf eine offene Konfrontation zwischen europäischen und muslimischen Kulturkreisen hin. Und Russland habe sich nun, durch die Mühen Kadyrows, auf der Seite der Opposition zum Westen positioniert. „Russland wird sich vor dem Hintergrund der Sanktionen und der Meinungsverschiedenheiten mit dem Westen auf der Seite der muslimischen Welt wiederfinden", meint der Experte. „Kadyrow tritt dabei als Beschützer der traditionellen Werte auf. Ob diese nun muslimisch oder orthodox sind, ist dabei irrelevant."

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