Die Russen sehen die Opposition als ein Element von Instabilität, meinen Experten. Foto: AP
Der Mord am russischen Oppositionellen Boris Nemzow in der vergangenen Woche rief in Russland und weltweit Bestürzung hervor. Viele Menschen hoffen nun auf eine neue Rolle der Opposition in Staat und Gesellschaft.
Eine Liberalisierung des Landes als Reaktion auf den Nemzow-Mord erhoffen sich vor allem oppositionelle Kreise, die prowestlich orientiert sind. Alles, was sie zu erwarten hätten, wäre aber eine weniger scharfe Rhetorik, meint Sergej Markow, Direktor des kremlnahen Instituts für politische Forschungen, und das aber auch nur dann, wenn nachgewiesen werden könne, dass russische Nationalisten hinter der Ermordung Nemzows stecken. Markow geht davon aus, dass es so weit nicht kommen wird: „Wahrscheinlich werden die Hintermänner nicht gefunden und westliche Geheimdienste für die Tat verantwortlich gemacht. Der Opposition wird vorgeworfen werden, diese zu unterstützen, um die russische Staatsführung zu diskreditieren. Der Ton zwischen Regierung und Opposition wird noch rauer werden."
Auch der unabhängige Politologe Stanislaw Belkowski sieht schwere Zeiten auf die russische Opposition zukommen: „Der russische Staat wird konsequent behaupten, hinter Nemzows Ermordung stecke die Opposition selbst, und zwar mit Unterstützung der USA." Belkowski geht davon aus, dass der Druck auf Regierungskritiker zunehmen wird: „Die Opposition wird sich dem Vorwurf ausgesetzt sehen, das Land destabilisieren zu wollen."
Konstantin Kalatschow, Leiter der unabhängigen Stiftung "Politische Expertgruppe" erwartet ebenfalls keinerlei Veränderungen im politischen System: „Noch sind alle sehr aufgewühlt und fordern, Aggressionen gegen Andersdenkende abzubauen. Aber ich erwarte nicht, dass sich dadurch in der Politik etwas ändern wird."
Aktuelle Überlegungen des wissenschaftlichen Beirats beim russischen Sicherheitsrat (SRRF) bestätigen die Politikwissenschaftler in ihrer pessimistischen Sicht. Der Beirat empfiehlt nämlich, landesweit Maßnahmen zur Abwehr von Farbrevolutionen zu ergreifen, berichtete die russische Zeitung „Kommersant" am Dienstag. Der ehemalige Geheimdienstler Andrej Manojlo, zugleich Beiratsmitglied, erklärte: „Der Mord an Boris Nemzow geschah am Vorabend einer geplanten Massendemonstration. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass politische Kräfte diese beeinflussen und daraus eine aggressive Meute machen wollten." Zu den empfohlenen Maßnahmen gehörten daher die Unterbindung von Aktivitäten in sozialen Netzwerken sowie der Kampf gegen „die Förderung von revolutionären romantischen Stereotypen in der Gesellschaft", sagte Manojlo dem „Kommersant".
Sergej Markow schätzt die Möglichkeit, dass Nemzows Ermordung zu einer großen Protestwelle führen wird, sehr gering ein: „Keine Chance. Die
meisten Russen gehen davon aus, dass Nemzow wegen einer Frau ermordet wurde, viele andere glauben, dass es die Amerikaner waren." Zwar waren bei den Trauermärschen für Nemzow auch Menschen, die zuvor noch nie an Aktionen der Opposition teilgenommen hätten und es seien auch zwei- bis dreimal mehr Menschen auf die Straße gegangen als erwartet, erklärt Stanislaw Belkowski. Doch er glaubt nicht, dass sich daraus eine längerfristige Protestaktion entwickeln wird wie etwa in Kiew auf dem Maidan.
Konstantin Kalatschow betont, dass die Opposition mit Nemzow nun zwar einen Märtyrer habe, aber um die Gesellschaft wachzurütteln, reiche sein Tod nicht aus. Der Großteil der Bevölkerung assoziiere mit der Opposition ohnehin keinen Wandel zum Positiven, sondern betrachte sie mehr als Element der Instabilität. Die russische Gesellschaft habe stets Angst, dass sich die Lage noch schlimmer entwickeln könnte und klammere sich daher
lieber an Stabilität, meint der Politikwissenschaftler.
Der Soziologe Denis Wolkow aus dem unabhängigen Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum sieht ebenfalls keine rosige Zukunft für die russische Opposition. Solange in Umfragen 85 Prozent der Befragten Putins politischen Kurs unterstützten, sei mit ernsthaften Protesten nicht zu rechnen: „Die Umfragewerte zeigen, dass viele Menschen die Regierung gar nicht kritisieren wollen." Wolkow meint, dass eine weitere Verschärfung der Wirtschaftskrise jedoch zur Herausforderung für das politische System in Russland werden könnte. Noch gebe es durch entsprechende Reservefonds ausreichend Mittel. Was jedoch in zwei Jahren passieren wird, wenn diese ausgeschöpft sein werden, sei noch völlig offen, so Wolkow.
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