Fall Nemzow: Neue Beweise nähren Zweifel an religiösem Tatmotiv

Fall Nemzow: Zweifel an der offiziellen Version wachsen. Foto: Reuters

Fall Nemzow: Zweifel an der offiziellen Version wachsen. Foto: Reuters

Videoaufnahmen zeigen, dass das Fluchtfahrzeug des mutmaßlichen Nemzow-Mörders zuvor mehrfach in dessen Nähe war. Und das lange, bevor sich die Ereignisse um das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ zuspitzten. Das nährt weiter Zweifel an der offiziellen Version von einem religiös motivierten Attentat.

Der russischen Zeitung „Moskowskij Komsomolez" („MK") wurden Videoaufnahmen zugespielt, die neue Fragen im Fall des ermordeten russischen Oppositionspolitikers Boris Nemzow aufwerfen. Der Zeitung zufolge zeigen die Aufnahmen, dass das Auto, mit dem der mutmaßliche Mörder nach Angaben der Ermittler floh, bereits im September vergangenen Jahres regelmäßig in der Nähe von Nemzows Wohnort gewesen sei. Damit verliert der bisherige Ansatz der Ermittlungsbehörden an Glaubwürdigkeit.

Bislang gehen diese davon aus, dass Nemzow von russischen Islamisten umgebracht worden ist. Grund dafür sei seine Unterstützung des französischen Satiremagazins „Charlie Hebdo", das Karikaturen des Propheten Mohammed veröffentlicht hatte und deshalb im Januar zum Ziel eines islamistischen Terroranschlags wurde. Nachdem nun die Videoaufnahmen aus dem September auftauchten, vermutet der „Moskowskij Komsomolez", Nemzow sei bereits seit Langem ausgespäht und möglicherweise wegen seiner im August getätigten Äußerungen über den Einsatz tschetschenischer Söldner im Südosten der Ukraine getötet worden.

 

Zweifel am religiösen Tatmotiv

Bisher sprach für die Version eines religiös motivierten Anschlags das Geständnis des Hauptverdächtigen Saur Dadajew, eines ehemaligen Mitarbeiters der russischen Polizei-Sondereinsatzkräfte. Dadajew hatte erklärt, für Planung und Durchführung der Tat verantwortlich gewesen zu sein.

Am 28. Februar, dem Tag nach der Ermordung Nemzows, wurde Dadajew nach Angaben des Polizeisprechers Wasilij Pantschenkow auf eigenen Wunsch hin entlassen. Zum Zeitpunkt des Mordes hatte Dadajew Urlaub; die Ermittlungsbehörden gehen davon aus, dass er seinen Urlaub zur Tatvorbereitung nutzte.

Neben Dadajew zählen für die Ermittler noch vier weitere Personen zu den Tatverdächtigen, darunter ein entfernter Verwandter Dadajews sowie dessen Bekannte. Drei von ihnen wurden bei einem Sondereinsatz in Tschetschenien festgenommen. Ein weiterer Verdächtiger sprengte sich bei seiner Festnahme mit einer Handgranate selbst in die Luft.

Saur Dadajew hat zunächst ein Geständnis abgelegt, dieses aber mittlerweile widerrufen. Dadajew war nach eigenen Angaben versprochen worden, dass der ebenfalls verhaftete Verwandte freikäme, wenn er die alleinige Schuld auf sich nähme, berichtete der „MK". Zudem behaupteten die Verhafteten gegenüber Menschenrechtsorganisationen, Misshandlungen ausgesetzt gewesen zu sein. So seien sie geschlagen worden, um das Geständnis zu erzwingen. Verwandte von Dadajew haben zudem Zweifel an einem religiösen Motiv: „Saur war noch nie ein sehr gläubiger Mensch", sagte seine Mutter der Zeitung „RBC".

 

Bauernopfer Kadyrow?

Warum die Ermittlungsbehörden dennoch weiterhin die sogenannte „islamistische Spur" verfolgen, erklärt Georgij Mirskij, Islamforscher und wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Weltwirtschaft und Internationale

Beziehungen an der Russischen Akademie der Wissenschaften: „Das ist die bequemste Version: Es gibt keinen Auftraggeber, das Motiv ist klar und niemand wird je die Wahrheit herausfinden können." Mirskij selbst hegt Zweifel an der offiziellen Version: „Nemzow hat sich selten zu diesem Thema geäußert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich deshalb jemand derart beleidigt gefühlt hat."

Der Journalist Oleg Kaschin weist auf seiner Webseite kashin.guru darauf hin, dass ungeachtet der mutmaßlichen Tathintergründe – religiös motiviertes Verbrechen oder Auftragsmord – die Rolle des Föderalen Sicherheitsdienstes ungeklärt sei. Er selbst sei 2010 Opfer eines versuchten Attentats geworden. Dmitrij Medwedjew höchstpersönlich hätte damals die Ermittlungen kontrolliert. Doch die Auftraggeber seien bis heute nicht gefunden worden. Kaschin lebt mittlerweile in der Schweiz.

Kaschin sagt, es sei „schwierig, sich vorzustellen, dass die Sicherheitsdienste nichts von einer so lang geplanten Operation gewusst

haben sollen". Er verweist darauf, dass der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow nach der Tat deutlich vom staatlichen Sicherheitsdienst kritisiert worden sei. „Man könnte glauben, dass die passive Rolle (des Sicherheitsdiensts) gewollt war, um Kadyrow kritisieren zu können und ihn anschließend auseinanderzunehmen", so Kaschin.

„Zum ersten Mal während der gesamten Regierungszeit Putins zeichnet sich ein scharfer und offener Systemkonflikt zwischen Ramsan Kadyrow und den Sicherheitsstrukturen der Föderationsebene ab", hat auch der unabhängige Politikwissenschaftler Stanislaw Belkowskij beobachtet. „Nun versuchen die Sicherheitsbehörden die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass die Mörder aus dem nahen Umfeld Kadyrows stammen", sagt er. Belkowskij fand die angeblich religiöse Motivation von Nemzows Mördern von Anfang an nicht besonders glaubwürdig.

 

Werden die tatsächliche Auftraggeber des Nemzow-Mordes gefunden? Sagen Sie uns Ihre Meinung! 

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