„Bei der Minsker Vereinbarung gab es keine Gewinner oder Verlierer“

Professor Moty Cristal: „In der Politik gibt es keine Win-Win-Situationen mehr“. Foto: Skolkovo School of Management

Professor Moty Cristal: „In der Politik gibt es keine Win-Win-Situationen mehr“. Foto: Skolkovo School of Management

Moty Cristal ist Professor für professionelle Verhandlungsführung in der Praxis an der Moskauer Managementschule Skolkowo. Gegenüber RBTH verrät er typisch russische Verhandlungstaktiken und plädiert für mehr Rücksicht auf kulturelle Besonderheiten.

RBTH: Welche Rolle spielt die jeweilige Kultur eines Landes bei Verhandlungen?

Moty Cristal: Die Kultur ist von sehr großer Bedeutung. Verhandlungen werden zwischen konkreten Menschen geführt. Und ein Mensch ist eine Kombination aus seinem Charakter, seiner Bildung und seiner Kultur. Viele Jahre suggerierte die klassische Literatur zum Thema Verhandlungsführung, die durchweg aus den USA stammt, dass man dabei der Win-Win-Strategie den Vorzug geben sollte, mit dem klassischen und vernünftigen Ansatz, den maximalen Nutzen für beide Parteien aus einer Verhandlung zu ziehen.

Ich bin Israeli, ich komme aus dem Nahen Osten und bin überzeugt, dass auch kulturelle Elemente bei Verhandlungen berücksichtigt werden müssen. Es gibt nicht nur einen richtigen Weg, mit Amerikanern, Jordaniern oder Palästinensern zu verhandeln.

Was charakterisiert einen typisch russischen Verhandlungsstil?

Da gibt es zum Beispiel die Sila-Strategie. Sila ist das russische Wort für Kraft. Die Strategie sieht vor, auf seinen Forderungen zu bestehen und zu drohen, wenn sie nicht durchgesetzt werden können. Hat auch das keinen Erfolg, werden die Drohungen verschärft.

Zurzeit dominieren die russische Verhandlungskultur aber zwei andere Ansätze: Zum einen gibt es da den Ansatz, der auf einer, wie ich es nenne, imperialen Sichtweise beruht. Russen nehmen sich selbst als Teil einer Großmacht wahr. Sie wollen verhandeln. Etwas anderes, zum Beispiel um eine Sache zu feilschen, liegt ihnen nicht so sehr. Für sie ist eine geschäftliche Verhandlung kein orientalischer Basar, während es in anderen Regionen wie Indien, Tadschikistan oder Usbekistan durchaus üblich ist, zu feilschen. Daher empfehle ich den Russen auch, zu Verhandlungen in solchen Regionen jemanden im Team dabeizuhaben, der mit dieser Kultur vertraut ist.

Dann gibt es den Ansatz der otnoschenija (zu Deutsch: „Beziehungen"). Beziehungen sind in der russischen Kultur ein grundlegender Wert. Der Grundgedanke besteht darin, dass Sie jemandem, dem Sie nicht vertrauen, keine Information geben. Um Geschäfte zu machen, müssen Sie deshalb sehr gute und tiefgehende Beziehungen zu Ihren Partnern haben. Der Aufbau solch guter Beziehungen bedarf natürlich viel Zeit. Und das widerspricht dem westlichen Grundsatz, dass Zeit Geld ist.

Werden diese Ansätze auch in politischen Verhandlungen verfolgt?

Das ist etwas anderes, hier kommt wieder die Sila-Strategie ins Spiel, weil es heutzutage kaum noch Win-Win-Situationen in der Politik gibt. Dort gilt der Ansatz der strategischen Allianz, einer Allianz, die die Idee einer Win-Win-Situation gewissermaßen widerspiegelt, und zwar in dem Sinne, dass beide Seiten in einem bestimmten Punkt und zur selben Zeit dieselben strategischen Absichten haben. Es gibt Allianzen, wie zum Beispiel jene zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten oder Russland und China, die sehr eng sind. In der Politik ist Sila die einzige Karte, auf die gesetzt wird, wohingegen das in der Geschäftswelt nicht immer der Fall ist. In der Geschäftswelt kann ich ein sehr kleiner Spieler ohne Kapital sein, verfüge dafür aber vielleicht über Technologie und Wissen. Politik aber ist ein reines Machtspiel.

Betrachten wir doch einmal ein konkretes Beispiel: Wer hat Ihrer Meinung nach bei den Verhandlungen zur Minsker Vereinbarung gewonnen?

Ich glaube, dass es vollkommen falsch wäre, hier nach Gewinnern oder Verlierern zu fragen. Hier muss ein ganzheitlicher Ansatz des Gleichgewichts

oder ein Schema, eine Dynamik gefunden werden. Gegenwärtig betreibt der Westen ein Kräftespiel, dass Russland immer weiter in die Ecke drängt. Man könnte daher von einem strategischen oder taktischen Sieg des Westens sprechen.

Im Hinblick auf die Ukraine sind viele Entwicklungen vorstellbar. Welches Ziel verfolgt Russland? Der Westen hat als strategisches Ziel erklärt, Russland aus der Ukraine drängen und die Ukraine an den Westen und die Europäische Union annähern zu wollen.

Ich als Unterhändler interpretiere das Vorgehen des Westens so, dass er die Krim bereits aufgegeben hat. Es wäre für ihn akzeptabel, wenn die Krim bei Russland bliebe, solange sich der Rest der Ukraine dafür der Europäischen Union annähert. Damit wäre für den Westen ein Gleichgewicht erreicht. Welches Ziel sich letztlich Russland gesetzt hat, bleibt die Frage.

 

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