Studie: Wie sich die Ukraine-Krise auf Russland auswirkt

Eine Studie prognostiziert innenpolitische Turbulenzen in Russland. Foto: Andrej Stenin/RIA Novosti

Eine Studie prognostiziert innenpolitische Turbulenzen in Russland. Foto: Andrej Stenin/RIA Novosti

Wie wird sich Russland zukünftig entwickeln? Dieser Frage ist eine Studie unter Leitung des ehemaligen Finanzministers Alexej Kudrin nachgegangen. Demnach gibt es zwei mögliche Szenarien – und beide gehen von ernst zu nehmenden innenpolitischen Turbulenzen aus. RBTH hat mit den Autoren der Studie gesprochen.

Russland stehen neue Proteste bevor. Wann genau mit ihnen zu rechnen ist, hängt unmittelbar von der Lage im Südosten der Ukraine ab. Zu dieser Schlussfolgerung kamen die Autoren der Studie „Zwischen Krim und Krise", die vom Komitee für Bürgerinitiativen unter der Leitung des ehemaligen Finanzministers Alexej Kudrin verfasst und am 31. März veröffentlicht wurde. Zwei konkrete Szenarien sind demnach für Russlands mittelfristige Zukunft denkbar.

Das erste Szenario geht von einer Einstellung der Kampfhandlungen in der Ukraine aus. Daraufhin würde der internationale politische Druck auf Russland nachlassen und die Hauptprobleme der Bevölkerung wären dann hauptsächlich wirtschaftlicher Natur. Die Aggressionen der Bevölkerung würden sich dann nicht mehr gegen Feinde im Ausland, sondern gegen Feinde in Russland richten – womit insbesondere Beamte und Migranten gemeint sind. Zudem würde die Unterstützung für die Regierung immer schwächer werden, was wiederum zu ernst zu nehmenden wirtschaftlichen Protesten führen könnte, die in ihrem Ausmaß mit den politischen Protestbewegungen der Jahre 2011 und 2012 gleichzusetzen wären.

Das zweite Szenario hingegen geht von einer weiteren Verschärfung der Kampfhandlungen in der Ukraine aus. Den Autoren zufolge würde sich dann das kollektive Bewusstsein der russischen Bevölkerung in eine Richtung bewegen, die das Land zunehmend isoliert. Es gäbe eine weitere Zunahme von Aggressionen gegen Feinde im Ausland. Die ermüdende Entwicklung des Konflikts und die anhaltende Wirtschaftskrise würden zu Protesten und einer abnehmenden Unterstützung der Bevölkerung für die Politik der Regierung führen. In diesem Fall, so die Autoren, könnte man schon bei den Parlamentswahlen 2016 mit ernsthaften politischen Folgen rechnen.

Hauptautor der Studie ist der Ökonom Michail Dmitriew, ehemaliger stellvertretender Minister für Wirtschaftsentwicklung und Handel, der zuvor sowohl die Entwicklung der Krise im Land 2008 als auch die politische Protestbewegungen 2011 richtig prognostiziert hatte.

 

Sind die Szenarien glaubwürdig?

Nicht alle unabhängige Experten können den Schlussfolgerungen der Untersuchung folgen. „In der Studie wird behauptet, dass eine Entspannung des Ukraine-Konflikts die russische Regierung vor Probleme stellen würde – und das schon bei den Parlamentswahlen 2016. Das glaube ich nicht", sagt Konstantin Kalatschew, Leiter der unabhängigen „Politischen Expertengruppe", im Gespräch mit RBTH.

„Ich glaube, dass gerade das Gegenteil der Fall sein wird: Eine Entspannung der Krise wird die Regierung stabilisieren, wohingegen sich eine Verschärfung und eine Selbstisolation eher negativ auf das Vertrauen in die Regierung auswirken werden", meint Kalatschew. Der Politologe erinnert an den ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush, dessen Beliebtheit stieg, als US-amerikanische Truppen in den Irak einmarschierten. „Doch als die Militäreinsätze länger andauerten als angenommen, büßte er an Beliebtheit ein." Würde nun Russland ähnliche Schritte in der Ukraine unternehmen,

könnte es zu einem ähnlichen Szenario kommen, glaubt der Experte.

Auch Leonid Poljakow, Professor am Institut für Politikwissenschaft an der Higher School of Economics, glaubt, dass eine Beilegung des Ukraine-Konflikts sich positiv auf Russlands innenpolitische Lage auswirken würde. Ein andauernder „Sanktionskrieg" würde seiner Ansicht nach zwar zu einem „isolationsartigen Zustand" im Land führen, jedoch keinen Aufstand gegen die Regierung oder Anfeindungen gegenüber Migranten nach sich ziehen. „Ich sehe keinen Zusammenhang zwischen der steigenden Xenophobie und dem Druck, den der Westen auf uns ausübt. Denn die Migranten, die zu uns kommen, stammen ja nicht aus dem Westen", meint der Professor.

 

„Großer Krieg zwischen Kühlschrank und Fernseher"

Die Experten merken übereinstimmend an, dass die Zustimmung der russischen Bevölkerung für Putin und die Regierung in Umfragen nur von kurzer Dauer sein könnte. Allerdings unterscheiden sich die von ihnen genannten Gründe dafür.

Auf der einen Seite ist Kalatschew davon überzeugt, dass die hohe Zustimmung für Putin vor allem der Unterstützung zweier Gruppen zu verdanken sei: Die erste Gruppe bestehe aus Bürgern, die von der Regierung Stabilität erwarte, die andere aus jenen, die auf eine Entwicklung hofften und konkrete Handlungen erwarteten. „Jedoch sind die Interessen

dieser beiden Gruppen widersprüchlich", so Kalatschew. „Wenn diese aufeinandertreffen, könnte Putins Rating in den Keller stürzen."

Putins ungewöhnlich hohes Rating sei eine direkte Folge der Angliederung der Krim, meint dagegen Poljakow. Das Rating würde daher auf ein normales Maß fallen, was bei zwei Drittel des jetzigen Wertes, also 60 bis 65 Prozent, liegen würde. „Das ist eine stabile Stimmenverteilung, wie sie auch bei Präsidentschaftswahlen zu erwarten wäre", so der Professor.

Natalja Subarewitsch, Direktorin für Regionalprogramme am Unabhängigen Institut für Sozialpolitik, ist der Ansicht, dass ein Rückgang der Beliebtheit unausweichlich sei. Sie erinnert daran, dass durch die Wirtschaftskrise infolge des Georgien-Kriegs 2008 die Ratings bis Ende 2013 auf ein Minimum fielen. „Ich denke, dass die Zustimmung heute nach demselben Muster fallen wird", so die Expertin. Sie gibt zwar zu, dass es damals keine „dermaßen intensive Propaganda" gab wie heute, doch zeichne sich für sie bereits ab, wie „der große Krieg zwischen Kühlschrank und Fernseher" enden werde.

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