Was steckt hinter dem Putschversuch gegen Erdoğan?

Improvisierte Pressekonferenz von Erdogan nach dem Putschversuch. Urlaubsort Marmaris, 15. Juli.

Improvisierte Pressekonferenz von Erdogan nach dem Putschversuch. Urlaubsort Marmaris, 15. Juli.

Reuters
Nach dem gescheiterten Militärumsturz der vergangenen Nacht in der Türkei ist eines klar: Der Autorität des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğans und der von ihm geführten islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung wurde ein enormer Schlag versetzt.

Der letzte Militärumsturz in der Türkei liegt 36 Jahre zurück – er fand 1980 statt. Nun hat also Präsident Recep Tayyip Erdoğan einen solchen Umsturz provoziert, indem er das Land ins Chaos stürzte und dessen Renommee auf der internationalen Bühne beschädigte. Warum hat das türkische Militär gegen die Führung aufbegehrt?

Die Gesellschaft ist gespalten

Erstens besteht zwischen der Armee, die traditionell den laizistischen Charakter des türkischen Staates verteidigt, und der gegenwärtigen islamistischen Führung ein ernster ideologischer Konflikt. Lange Zeit schien es, dass Präsident Erdoğan, der eine Politik der schleichenden, aber unerbittlichen Islamisierung führt, die Oberhand behält und den Widerstand der Generäle gebrochen und sie dazu gezwungen habe, die Abkehr von den säkularen Prinzipien Mustafa Kemal Atatürks hinzunehmen. Dass er die „fünfte Kolonne“ in den Reihen der Streitkräfte eliminiert habe, indem er das Offizierskorps mithilfe einer Serie medienwirksamer Prozesse „säuberte“. Aber nun hat sich gezeigt, dass dies nicht der Fall war.

Zweitens trägt der Präsident, nach Meinung vieler Türken und vor allem eines großen Teils der Eliten, die Verantwortung für die instabile innenpolitische Lage im Land. Die Gesellschaft ist gespalten, was die Massenproteste 2013 verdeutlicht haben. Dabei weigert die Führung sich beharrlich, der Opposition Gehör zu verleihen und kümmert sich im Wesentlichen nur darum, seiner eigenen Wählerschaft, die ungefähr die Hälfte der Bevölkerung ausmacht, gerecht zu werden.

Drittens hat Präsident Erdoğan den Bürgerkrieg in der Türkei wieder aufflammen lassen. Denn gerade sein Vorgehen war es, das nach Meinung vieler türkischer Politiker und der Kurden selbst, zu einem Ausbruch militärischer Aktionen geführt und die jahrelangen Anstrengungen auf dem Weg des friedlichen Dialogs zunichtegemacht hat. Deshalb befindet das Land sich gegenwärtig faktisch im Kriegszustand – noch vor ein paar Jahren gab es dafür weder ausreichend Gründe noch die entsprechenden Voraussetzungen.

Zerstritten mit der ganzen Welt

Viertens hat es die türkische Regierung fertiggebracht, sich in der Außenpolitik mit nahezu allen bedeutenden Akteuren in der Welt und in der Region zu überwerfen. Die diplomatische Bilanz Erdoğans ist erschreckend: In Syrien entwickeln die Ereignisse sich absolut nicht nach dem Szenario, das Ankara erwartet hat. In Ägypten wurde der Protegé Erdoğans, der Islamist Mohammed Mursi, aus dem Präsidentenamt gejagt. Das Verhältnis zur Europäischen Union ist zerrüttet, was alleine schon Deutschlands Anerkennung des Völkermords an den Armeniern im Jahre 1915 und die hoch emotionale, einem verbalen Foul gleichende Reaktion des türkischen Staatschefs verdeutlicht. Ankara hat in absehbarer Zukunft praktisch keinerlei Chancen auf eine Mitgliedschaft in der EU – ein Ziel, für das die Führung des Landes Jahrzehnte lang gekämpft hat.

Die Kurdenfrage sorgte für ernsthafte Differenzen mit den USA, und der Abschuss eines russischen Kampfflugzeuges provozierte eine bisher noch nie dagewesene Krise in den Beziehungen zu Moskau, das noch kurz zuvor als strategischer Partner galt. Letztendlich verfügt Ankara, das seinerzeit das Prinzip „keine Probleme mit den Nachbarn“ verkündet hatte, heute praktisch über keine Bündnispartner mehr in der Region, sieht man vielleicht einmal von Aserbaidschan ab.

All diese Umstände haben offensichtlich die Gegner des türkischen Präsidenten zu diesem drastischen Vorgehen bewegt. Ein Teil des Militärs kam wahrscheinlich zu dem Schluss, dass es an der Zeit sei, die Türkei vor dem Mann zu retten, der das Land durch seine Politik zerstört und es spaltet, wenn nicht gar in den Zerfall treibt.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Kommersant.

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