Die anonymen Kanäle liefern News aus den Hinterzimmern der Macht.
ReutersDas war schon eine sonderbare Szene, die sich Mitte Januar dieses Jahres in einer Livesendung des russischen Staatsfernsehens Rossija 24 abgespielt hat: Drei Journalisten interviewten via Skype einen maskierten Mann, der mit einer digital verzerrten Stimme kurz und knapp auf ihre Fragen antwortete. Vorgestellt hatte sich der geheimnisvolle Experte als Nesygar. Er sei Betreiber des gleichnamigen Telegram-Kanals, der Insider-Informationen über die russische Politik anbietet.
Der Name „Nesygar“ verweist auf den russischen Journalisten Michail Sygar, Autor des Bestsellers „Endspiel: Die Metamorphosen des Wladimir Putin“ (erschienen 2015 bei Kiepenheuer & Witsch). In seinem Buch berichtet der Autor auf Grundlage anonymer Interviews von Verflechtungen in den höchsten Kreisen der russischen Macht.
Der maskierte TV-Experte agiert auf ähnliche Weise, grenzt sich mit seinem Pseudonym jedoch klar von seinem Kollegen ab: „Ne-Sygar“ heißt „Nicht-Sygar“. Wer der mysteriöse Politikbeobachter nun wirklich ist, bleibt verborgen.
„Der politische Journalismus gehört der Vergangenheit an“, erklärte Nesygar dem Sender Rossija 24. „Ich rufe alle Zeitungsverlage dazu auf, ihre Ressorts zu schließen und zu Telegram zu wechseln. Dort geht es ehrlicher zu.“
Am nächsten Tag erschien jedoch auf Nesygars Telegram-Account eine Meldung, der echte Nesygar trage keine Sturmhauben und gebe keine Interviews; bei Rossija 24 sei irgendein Möchtegern aufgetreten. Das ist dem echten Nesygar ähnlich: Der Experte teilt über seinen Kanal ständig Spekulationen anderer Nutzer darüber, wer Nesygar sein könnte – ohne diese zu bestätigen oder zu dementieren.
Ein Mann, der sich als Nesygar ausgab, gab dem Fernsehsender Rossija 24 ein Interview. Den Videomitschnitt in russischer Sprache finden Sie hier.
Nesygars Kanal hat seit seiner Gründung im November 2015 rund 29 000 Follower gesammelt. Damit ist der Account der beliebteste Politik-Kanal bei Telegram. Er versorgt seine Abonnenten mit Kommentaren zu Rücktritten und Ernennungen von Regierungsbeamten, genauen Analysen von Machtkämpfen in den innersten Machtzirkeln und hin und wieder auch Prognosen. Eine davon lautet, dass die Fifa im Herbst dieses Jahres Russland die Fußball-WM wegnehmen werde. Die Prognosen bewahrheiten sich bei Weitem nicht alle, doch der Beliebtheit von Nesygars Kanal schadet das nicht.
Ein anderer großer Politik-Kanal bei Telegram ist „Metoditschka“ (zu Deutsch: „Lehrbuch“) mit 13 500 Followern. Dieser Kanal ist auf die Verbreitung von Gerüchten aus der russischen Regierung, dem Parlament und anderen staatlichen Stellen spezialisiert. Die Betreiber bringen immer wieder exklusive Zitate von Spitzenpolitikern, die bis dahin in keinem traditionellen Medium aufgetaucht sind.
Die Beliebtheit dieser Social-Media-Kanäle ist mit jener der etablierten Medien nicht zu vergleichen: Telegram wird von Zehntausenden gelesen, der russische Staatssender Erster Kanal erreicht indes über zehn Millionen Zuschauer. Alle Otto-Normal-Bürger anzusprechen, ist aber auch gar nicht das Ziel der Telegram-Kanäle, wie Nesygar erklärt. Ihr Zielpublikum seien Menschen, für die Politik wichtig ist: Journalisten, Politologen, Politiker.
Besonders die Politiker schätzen Telegram. Minister und Gouverneure in der russischen Provinz würden die Nachrichten in dem sozialen Medium deutlich aufmerksamer verfolgen als in den Massenmedien, schreibt das Newsportal ura.ru. Medien könne man ignorieren, heißt es laut dem Portal in einem russischen Regionalministerium. „Die Telegram-Kanäle werden aber als Bericht an die regionalen Entscheidungsträger aufgefasst“, so der Insider.Die Politiker in den Regionen würden die anonymen Leaks bei Telegram lesen, um überhaupt zu verstehen, was geschehe, schreibt das Portal unter Berufung auf die Kanzlei eines regionalen Gouverneurs. „Der Kreml gibt keine Informationen und berät sich nicht mit den regionalen Eliten“, erklärt der Insider laut dem Portal. Da blieben nur die Telegram-Kanäle – eine nicht ganz zuverlässige, aber immerhin überhaupt Informationsquelle.
Einige Betreiber der politischen Kanäle verstecken sich nicht in der Anonymität. Der Politologe Leonid Dawydow ist einer davon. Sein Account „Dawydow.Index“ hat über 20 000 Follower. In einem Interview mit dem Nachrichtenportal lenta.ru sagte er, dass er Anonymität nicht nötig habe: Dem Text eines Menschen mit Namen und Ansehen vertrauten die Leser mehr.
Doch die anonymen Kollegen hätten mehr Freiheiten, räumt Dawydow ein: „Wenn ich in meinem Namen einen Kanal betreibe, muss ich natürlich gewisse Grenzen abstecken. Einige halten das für Selbstzensur, ich halte das für gesunden Menschenverstand.“ Weder Nesygar noch Metoditschka haben solche Grenzen. Häufig genug enthalten dortige Veröffentlichungen kompromittierendes Material, oft allerdings bar jeden Belegs.
Der Politikberater Jewgenij Mintschenko, Präsident der Kommunikationsagentur Minchenko Consulting, sagte im Gespräch mit RBTH, es sei unmöglich, die Authentizität von kompromittierendem Material bei Telegram zu prüfen.Dennoch werden die Telegram-Kanäle immer beliebter. Experten begründen dies mit der Intransparenz der russischen Politik. Die Leser würden sich einfach für jede Quelle interessieren – besonders, wenn auf Insiderinformationen verwiesen wird.
„Der Kreml versorgt uns nur ungern mit Informationen darüber, was er vorhat. Die Menschen aber wollen wenigstens etwas wissen. Deshalb ziehen sie jede Quelle heran, die Informationen bereitstellen kann“, sagt Walerij Solowej vom Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen. Die anonymen Telegram-Kanäle, auf denen sich alles um Leaks drehe, würden beim Leser das Gefühl der Teilhabe an einem Geheimnis wecken. So etwas sei immer erfolgreich, betont der Professor. „Menschen glauben, die Telegram-Kanäle seien eben deshalb konkreter und glaubwürdiger als offizielle Quellen, weil sie anonym sind“, meint Solowej. „Das funktioniert auch, wenn etablierte Medien sich auf Insiderkreise aus dem Kabinett berufen. Aber hier ist das auf die Spitze getrieben.
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