Syrien: Warum der Giftgasangriff den Frieden begräbt

Ein Mitglied des syrischen Zivilschutzes wird nach einem mutmaßlichen Giftgasangriff in der nordsyrischen Stadt Chan Scheichun von Rettungskräften behandelt.

Ein Mitglied des syrischen Zivilschutzes wird nach einem mutmaßlichen Giftgasangriff in der nordsyrischen Stadt Chan Scheichun von Rettungskräften behandelt.

Reuters
Nach einem Giftgasangriff in der syrischen Provinz Idlib kamen mindestens 72 Menschen ums Leben. Die syrische Opposition beschuldigt das Regime von Baschar al-Assad, Moskau und Damaskus hingegen die Opposition. Experten befürchten, dass dieser Vorfall das Ende einer friedlichen Lösung des Konflikts in Syrien bedeuten könnte.

Erste Meldungen über einen Giftgasangriff am Dienstag in Chan Schaichun, einer Stadt in der Provinz Idlib im Norden Syriens, kamen von der Menschenrechtsorganisation Syrian Observatory for Human Rights. Mindestens 72 Menschen seien bei dem Angriff ums Leben gekommen. „In einem Viertel von Chan Schaichun fand voraussichtlich ein Giftgasangriff statt, der Erstickungen verursachte“, heißt es in einer Meldung auf der Webseite der Organisation.

Bilder von erstickten Zivilisten, darunter auch Kinder, verbreiteten sich sehr schnell in den Medien. In einer Pressemitteilung von Ärzte ohne Grenzen heißt es, die Opfer seien womöglich mit Chlor und Sarin vergiftet worden.

Schwere Vorwürfe gegen Damaskus

Die Provinz Idlib und somit die Stadt Chan Schaichun stehen unter Kontrolle der syrischen Oppositionsgruppen. Die Vertreter der Rebellen sowie der Westen machen Baschar al-Assad für den Giftgasangriff verantwortlich. „Eine brutale und unverfrorene Barbarei“, schimpfte US-Außenminister Rex Tillerson die Attacke und forderte Russland und den Iran auf, Einfluss auf ihren Verbündeten Assad auszuüben.

Vorwürfe kamen auch aus dem Vereinigten Königreich. Premierministerin Theresa May sagte, es sei nicht hinnehmbar, dass Assad Präsident von Syrien bleibe. Auch die Türkei beschuldigte die syrische Regierung und warnte Russland, solche Ereignisse würden jegliche Chancen auf Friedensgespräche in Genf und Astana gefährden.

Eine andere Sichtweise

Mitglieder des syrischen Zivilschutzes begutachten die Schäden nach einem Luftangriff am Dienstag auf die Stadt Chan Scheichun im Norden Syriens. / ReutersMitglieder des syrischen Zivilschutzes begutachten die Schäden nach einem Luftangriff am Dienstag auf die Stadt Chan Scheichun im Norden Syriens. / Reuters

Die syrische Regierung streitet eine Beteiligung am Anschlag auf Chan Schaichun ab. „Selbst in den schlimmsten Tagen setzte das syrische Militär nie solche Waffen ein“, heißt es in einem offiziellen Facebook-Beitrag der Syrisch-Arabischen Armee. Damaskus bezeichnete den Angriff als eine Provokation der Opposition.

Moskau teilt die Ansicht von Damaskus. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa nannte die Medien, die der syrischen Regierung die Schuld an dem Angriff geben, „engagiert“. Sie würden versuchen, Russland verantwortlich machen zu wollen. Moskau hat indes eine eigene Version: Die syrische Luftwaffe soll tatsächlich einen Angriff in der Region von Chan Schaichun ausgeführt haben, doch seien die Ziele dabei nicht Wohngebiete, sondern Werke gewesen, in denen die Milizen Giftmunition herstellten.

Der Vorfall wird derzeit von den Vereinten Nationen sowie der Organisation für das Verbot chemischer Waffen untersucht. Nach Angaben der Organisation lässt sich bislang unmöglich feststellen, wer für den Giftgasangriff verantwortlich ist.

Wer profitiert davon?

Männer auf einem Motorrad fahren an einem Warnschild in der von Rebellen kontrollierten Stadt Chan Scheichun vorbei, das auf die Gefahr von Blindgängern hinweist. / ReutersMänner auf einem Motorrad fahren an einem Warnschild in der von Rebellen kontrollierten Stadt Chan Scheichun vorbei, das auf die Gefahr von Blindgängern hinweist. / Reuters

Experten haben geteilte Meinungen, was die Version eines Angriffs durch die syrische Regierung angeht. Sergej Balmassow, Analyst vom Forschungszentrum für Krisengesellschaft, bemerkt, für Baschar al-Assad sei dies ein sehr ungünstiger Zeitpunkt, seiner Reputation durch einen Angriff wie auf Idlib zu schaden. Deshalb sei dieAttacke inszeniert worden. „Man kann Assad für einen Tyrannen halten. Aber er ist nicht so blöd, die Opposition mit Giftgas anzugreifen und zu glauben, das bliebe ohne Folgen“, wird Balmassow von Yenicag.ru zitiert.

Andererseits, so betont Kirill Semjonow, Vorsitzender des Islamischen Forschungszentrums für innovative Entwicklung, könnte die syrische Regierung einen Angriff ausgeführt haben, ohne Russland davon in Kenntnis zu setzen. Denn Damaskus sei daran interessiert, den Krieg weiterzuführen. „Mit einer solchen Aktion könnte Assad bezwecken, den syrischen Friedensprozess endgültig zu beenden. Gleichzeitig könnte die Opposition für das Scheitern des Friedensprozesses verantwortlich gemacht werden, weil sie weitere Friedensgespräche wohl ablehnen wird“, sagt Semjonow.

Das Ende der Friedensbestrebungen?

Ein Mann atmet durch eine Sauerstoffmaske, ein weiterer wird behandelt. Die Rettungskräfte gehen bei den Angriffen am Dienstag in der Stadt Chan Scheichun von einer Giftgasattacke aus. / ReutersEin Mann atmet durch eine Sauerstoffmaske, ein weiterer wird behandelt. Die Rettungskräfte gehen bei den Angriffen am Dienstag in der Stadt Chan Scheichun von einer Giftgasattacke aus. / Reuters

Dass der syrische Friedensprozess endgültig gescheitert ist, das glaubt auch Wladimir Achmedow vom Institut für Orientalistik der Russischen Akademie der Wissenschaften. „Es ist schon jetzt klar, dass die Opposition das Regime (für den Giftgasangriff) verantwortlich machen wird. Die syrische Regierung dagegen wird alles zurückweisen und von einer Provokation durch die Milizen sprechen. Auf jeden Fall schwindet die Möglichkeit eines Kompromisses“, sagte Achmedow im Gespräch mit RBTH.

Der Waffenstillstand zwischen der Regierung und der Opposition, der offiziell seit dem 30. Dezember 2016 gilt, werde ohnehin lediglich auf dem Papier eingehalten. Jede Woche steige die Zahl der Verletzten, die Kämpfe würden intensiver, betonte der Experte. Die Gespräche in Genf, die zuletzt Ende März stattfanden, seien ins Stocken geraten. Nach einem solchen Vorfall wie dem Giftgasangriff würden sie sicher nicht mehr zustande kommen, meint Achmedow.

Diese Ansicht teilt auch Grigorij Kossatsch, Professor an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität. „Bei den Friedensgesprächen in Genf konnte das kritische Verhältnis zwischen Regierung und Opposition nicht entschärft werden. Und jetzt, wo es zu Kämpfen und gar Giftgasangriffen kommt, besteht die Gefahr, dass es solche Gespräche überhaupt nicht mehr geben wird“, sagte Kossatsch im Gespräch mit RBTH.

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