Foto: Robert Neu
Die Erde bebt vom vieltausendfüßigen Trampeln der Reiterhorden, in einer unheilverkündenden Staubwolke nähern sich die Angreifer der Stadt. Wir schreiben das 13. Jahrhundert, wie die hereinbrechende Apokalypse müssen die Tatarischen Krieger den Verteidigern der russischen Fürstentümer vorgekommen sein. Eine unvollendete Kathedrale aus Stein ragt weit hinaus sichtbar ins Land, die Bauarbeiter flüchten oder fallen dem Massaker zum Opfer. Panik bricht aus, es wird gebrandschatzt, geplündert, gemordet. Wie durch ein Wunder trotzt die Georgskathedrale den Eindringlingen.
So oder so ähnlich könnte es sich vor über siebenhundert Jahren abgespielt haben. Der Tatareneinfall ist längst Geschichte, die Georgskathedrale aber steht heute noch in Jurjew-Polski, einer Kleinstadt mit kaum zwanzigtausend Einwohnern rund 70 Kilometer von Wladimir entfernt. Nicht irgendein Kirchenbau wartet auf die Besucher: Wie durch ein Wunder hat das letzte Bauwerk der vormongolischen Zeit als Unikum die Jahrhunderte überstanden.
„Diese Kathedrale ist einer der wahren Höhepunkte Russlands", lässt sich Leonid K. hinreißen. Leonid ist Kunstprofessor aus St. Petersburg. Ausdrucksstarke Ornamente im weißen Kalkstein zieren den Bau: Gutmütige Löwen neben altrussisch gekleideten Zentauren, christliche Heilige neben Fabelwesen, Märchenwesen neben biblischen Figuren. Mystische Darstellungen, die sich dem Betrachter auf den ersten Blick einprägen. Auch ohne Fachverstand staunt der Laie über die Ausdrucksstärke der Verzierungen. Es ist eines der wenigen Bauwerke, die aus dieser für Russland so prägenden Zeit erhalten sind.
Leonid K. führt seit Jahren jeden Sommer Studentengruppen für ein Praktikum in die zentralrussische Provinz. Im Originalzustand sei die Kathedrale nicht mehr, erklärt er und verweist auf die Reliefarbeiten, die eindeutig nachgestaltet seien und nicht zur Gesamtkomposition passten.
Irgendwann im 15. Jahrhundert sei die Kathedrale eingestürzt und die neuen Baumeister hätten das Puzzle nicht wieder originalgetreu zusammensetzen können. Diese fehlerhafte Rekonstruktion zu dokumentieren, hat Leonid sich zur Aufgabe gemacht. Ob er die tonnenschweren Steinblöcke jemals entziffern wird, ist unklar. Für Restaurierungsmaßnahmen wird kein Geld vorhanden sein.
„Die Kathedrale ist wie ein Mosaikstein der russischen Geschichte", sagt er. „Sie zeugt von unserer Vergangenheit und dem Mongoleneinfall, aus dieser Zeit haben wir sonst sehr wenige erhaltene Bauwerke. Man hat ja sonst fast ausschließlich mit Holz gebaut. Wir müssen uns um unser Kulturerbe kümmern. Es war lange in Vergessenheit", spricht er über sein Engagement.
Zu seinen Studenten hat Leonid K. ein sehr respektvolles Verhältnis. In der städtischen Kantine beim Mittagessen wird gemeinsam eine Turmbesichtigung beschlossen. Weit öffnet sich der Blick über die das weite Land, die schläfrige Kleinstadt, die Georgskathedrale und das Erzengel-Michael-Kloster.
Von Erdwall und Mauer umgeben strahlt das Kloster mit fünf Kuppeln Größe aus und lädt zum Eintreten ein. Im Innenhof spaziert es sich wie in einem Freilichtmuseum, die hölzerne Georgskirche aus dem 18. Jahrhundert bietet wie die Erzengel-Michael-Kathedrale fantastische Blicke. Die prächtigen Türme auf den Mauern sind gut erhalten, das Ensemble insgesamt ist eines der beeindruckendsten im „Goldenen Ring", Russlands altem Zentrum.
Besonders Liebhabern authentischer Orte ohne Massenandrang sei ein Besuch empfohlen. Das ruhige Städtchen Jurjew-Polski verfügt allerdings über eine nur unzureichende Infrastruktur. Für Individualtouristen sind kaum Übernachtungsangebote vorhanden. Durch die Nähe zur größeren Stadt Wladimir ist ein Besuch dennoch unproblematisch. Die russische Provinz verzaubert durch ihre Ruhe, für das kulturell-architektonische Highlight ist mit der Georgskathedrale gesorgt.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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