Die liebsten Orte der Russen in Deutschland sind München und Berlin, mit sicherem Abstand gefolgt von Düsseldorf, Frankfurt am Main und Hamburg. Foto: Mathew G. Crisci
Noch ist Deutschland nicht das beliebteste Reiseland der Russen – diesen Platz hält seit Jahren die Türkei, vor der Ukraine und China. Seit 2012 steigt die Bundesrepublik Deutschland als Reiseziel stetig in der Gunst der Russen unaufhaltsam und rasant an. Das ist vor allem für die Tourismusbranche ein Grund zum Freuen, denn laut Angaben der Deutschen Zentrale für Touristik (DZT) waren 61 Prozent aller aus Russland im vergangenen Jahr eingereisten Personen Touristen – Tendenz steigend.
Seit den Zeiten der dynastischen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen dem russischen Zaren und dem deutschen Kaiser sind russische Reisende willkommene Gäste auf deutschem Boden. Die Namen der Bäder- und Kurorte wie Baden-Baden oder Wiesbaden klingen wie Musik in den Ohren der Russen, die mit den Werken ihrer Klassiker vertraut sind.
Dostojewski schrieb beispielsweise in Baden-Baden den „Spieler". Turgenev, Tolstoi und Gontcharov waren zwar keine Zocker, aber dem Charme des Reichtums und der Reichen waren auch sie erlegen. Und sie befanden sich in illustrer Gesellschaft unter Fürsten und Großfürsten aus der Zarenfamilie, Adligen und Industriellen, die mit ihrem Gefolge für Spaß, Stress und beste Umsätze sorgten, bevor sie als Emigranten zurückkehrten.
Während in Russland die sowjetischen Traditionen eine Wiedergeburt feiern, orientiert sich das große Geld an den vorrevolutionären Zeiten. Russen mit dicken Brieftaschen sind auch heute wieder gern gesehene Gäste in Baden-Baden. Knapp 70 000 Übernachtungen buchten sie dort im Jahr 2012. Legenden umranken die russischen Neureichen, die bündelweise 500-Euro-Noten aus ihren Taschen ziehen, die sie mit der Lebensdevise „Nicht Geld macht glücklich, sondern viel Geld" zuvor in sie hineingeschaufelt hatten. Auf wessen Kosten – das ist ihr Geheimnis.
Für den Boom im russisch-deutschen Reisegeschäft aber sorgen nicht die Oligarchen und auch nicht diejenigen, die sich an ihren Näpfen laben, sondern die wachsende Mittelschicht. Zwischen 2002 und 2012 haben sich laut Angaben der Deutschen Zentrale für Touristik (DZT) die Übernachtungen russischer Staatsbürger in Deutschland knapp verdreifacht. Im Jahr 2012 stiegen sie gegenüber dem Vorjahr um satte 25,9 Prozent. Damit erreichte Russland Rang zehn auf dem internationalen Besucherranking für Deutschland.
Deutsche Großstädte fest in der Hand russischer Shoppingtouristen
Vor allem der Einzelhandel ist hoch erfreut. In den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres gaben russische Touristen in deutschen Geschäften 251 Millionen Euro aus, davon allein die Hälfte für Kleidung. Am rasantesten in ihrer Gunst stieg 2012 Dresden: Die Umsätze durch den Kultur- und Shopping-Tourismus aus Russland in der Elbestadt haben sich verdoppelt. Bis zum Ende des russischen Weihnachtsfestes landeten auf dem Dresdner Flughafen 16 Sonderflugzeuge, die zusätzlich zu den sechs wöchentlichen Linienflügen kauflustige Touristen, vornehmlich aus Sankt Petersburg und Moskau, in die Stadt brachten. Und wie auch in den großen Kaufhäusern und beliebten Boutiquen der Metropolen stellte man sich in Dresden mit russischsprachigen Verkäufern auf den Boom ein.
Die liebsten Orte der Russen aber sind weiterhin traditionell München und Berlin, mit sicherem Abstand gefolgt von Düsseldorf, Frankfurt am Main und Hamburg. Im Vergleich zu anderen europäischen Metropolen genießen die deutschen Großstädte den Ruf, beneidenswert preiswerter Shoppingparadiese zu sein. In Russland sind qualitativ hochwertige Waren, vor allem Markenprodukte, nur zu Preisen zu haben, die jene hierzulande um das Doppelte oder Dreifache übersteigen. Hohe Importzölle, mangelhafter Service und die russische Neigung, schnell viel Geld machen zu wollen, treiben die Käufer aus dem Land. Etwa die Hälfte der russischen Duty-Free-Einkäufe in Deutschland entfällt auf Kleidung.
Doch es wäre falsch, den Russen allein kommerzielle Beweggründe für ihre wiedererwachte Reiselust zu unterstellen. „Neu- und Wissbegier haben wir im Blut", meint Nina M., die als Reisebegleiterin regelmäßig mit russischen Touristen in Westeuropa unterwegs ist. Immer mehr auch finanzschwächere Menschen wie zum Beispiel alleinstehende Frauen, Studenten und Schüler würden die Strapazen langer Busreisen auf sich nehmen, um in „drei Tagen zehn Städte" zu besichtigen.
Deutschland sei auf diesen Touren oft Transitland und die Zeit knapp bemessen. „Sie vollbringen Wunder an Geschicklichkeit!", meint Nina, denn um Geld zu sparen, seien sie bereit, im Bus zu nächtigen, begnügten sich mit dem Frühstück im Hotel und mit Fast Food unterwegs. „Sie wollen so viel wie möglich sehen, erfahren, fotografieren und unbedingt shoppen gehen."
Dialoge wie der folgende vor der Ankunft an einem der Reiseziele gehören deshalb zum Alltag:„Haben wir dort Zeit für Einkäufe?"„Das kann ich nicht versprechen. Wir haben nur zwei Stunden für die Stadtrundfahrt."„Kommen Sie, wenigstens zehn Minuten..."„Zehn Minuten reichen nicht für Einkäufe. Dann müssen wir eben die Zeit für die Stadtrundfahrt kürzen!" „Auf keinen Fall! Wir wollen alles sehen!"
Russische Patienten vertrauen auf das deutsche Gesundheitssystem
Einen beträchtlichen Zuwachs im Reisegeschäft verbucht seit Jahren schon das innovative deutsche Gesundheitswesen. „Nicht dass die russischen Ärzte in einem schlechten Ruf stünden", meint Mischa Befus, der in Berlin eine auf Behandlungsreisen spezialisierte Agentur betreibt, „aber in den russischen Kliniken fehlt es an technologischem Know-how und den Apparaturen für komplizierte Eingriffe."
Er erzählt von einem Moskauer Ingenieur aus der Ölbranche, der im vergangenen Jahr nach einer erfolgreichen Krebsbehandlung von heftigen Schmerzen geplagt wurde. Die Ärzte empfahlen ihm eine Münchener Klinik, in der er schon nach einem Tag und einer Flugreise in einem bei der Lufthansa gecharterten Privatjet eingeliefert und behandelt wurde. „In solchen Fällen", so Mícha Befus, „sind selbst die deutschen Grenzbehörden kulant." Für die enormen Kosten kam die ganze Familie auf.
Auch in Sachen Gesundheit haben die Berliner die Nase vorn. Nizar Maarouf, Vizedirektor von Vivantes International freut sich, dass die Zahl der russischen Patienten von 80 im Jahr 2007 auf 1000 im Jahr 2011 gestiegen ist.
Die Vivantes-Krankenhäuser betreuen 30 Prozent aller Berliner. Von ihren exzellenten Kontakten noch aus der sozialistischen Ära profitiert ebenfalls die Charité, in der einige Szenen der beliebtesten sowjetischen Fernsehserie aller Zeiten, „17 Augenblicke des Frühlings", gedreht wurden. 2012 behandelten Ärzte der Charité über 3 000 russische Patienten.
Die russischen Touristen schaffen Tatsachen, vor denen die deutsche Politik nicht länger die Augen verschließen sollte. Dass die EU den Russen nach wie vor die Visafreiheit verweigert, ist vor allem auf deutschen Einspruch zurückzuführen. Man wolle sich vor Kriminellen schützen, heißt es offiziell. Doch für Geld bekommt man alles in der Welt – auch ein deutsches Visum. Es ist Zeit, dass auch diese Grenzen endlich fallen.
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