Neuer Trend in Russland: Öko-Tourismus statt Robbenjagd

Der natürliche Lebensraum der Robben im Weißen Meer entwickelt sich zu einem Zentrum des Öko-Tourismus. Foto: Jewgenij Ptuschka/ Strana.ru

Der natürliche Lebensraum der Robben im Weißen Meer entwickelt sich zu einem Zentrum des Öko-Tourismus. Foto: Jewgenij Ptuschka/ Strana.ru

Am Weißen Meer entwickelt sich eine neue Richtung des Öko-Tourismus: Eine rücksichtsvolle Begegnung mit Seerobben in deren natürlichem Lebensraum.

Das Dorf Nilmoguba befindet sich an der Mündung des Flusses Nilma am Weißen Meer am Polarkreis. So heißt auch die nächstgelegene Eisenbahnstation: Polarkreis. Im Winter reichen die Schneewehen mindestens bis zur Taille, man kann sich am Anblick von Nordlichtern erfreuen, der Schnee taut erst im Mai weg und dann kommen auch schon die Weißen Nächte.

In den letzten Jahren haben immer mehr Öko-Touristen den Weg in dieses Dorf gefunden, denn nur hier kann man an einer einwöchigen Fotosafari zu den Siedlungsgebieten der Seerobben teilnehmen und ihnen in ihrem natürlichen Lebensraum begegnen.

„Bei uns hier im Weißen Meer sind vier Robbenarten heimisch", beginnt der Guide Michail seine Einweisung der Gruppe. „Erstens die Bartrobbe, die hier auch Lachtak genannt wird. Sie lässt sich leicht an ihren weißen hängenden Barthaaren erkennen. Dann die Ringelrobbe, deren graues oder auch braunes Fell mit Flecken in Form von Ringen gemustert ist. Die Grönland-Seerobbe ist ein seltener Gast und kommt nur zum Werfen ihrer Jungen ins Weiße Meer. Und schließlich noch die graue Seerobbe, aber sie wohnt eigentlich in der Nähe der Halbinsel Kola und schaut hier bei uns, in Welikaja Salma, nur selten vorbei."

„Werde ich sie denn streicheln können?", kann sich eine ungefähr dreißigjährige Mutter, die mit ihrem zwölfjährigen Sohn zum Beobachten der Seerobben hierhergekommen ist, nicht zurückhalten. Die anderen Teilnehmer lachen nachsichtig.

 

Russland ist gerade für den Öko-Tourismus mit Robben sehr geeignet

Die Idee, Touristen Tiere in deren natürlichem Lebensraum zu zeigen, ist nicht neu, doch Russland scheint nicht gerade das perfekte Land dafür zu sein. Selbst in Russlands Naturschutzparks lässt das Auftauchen der Tiere sich häufig nicht garantieren und man begegnet einem Bären oder einem Wolf meist nur genau in dem Moment, wenn man nicht damit rechnet.

Aber der russische Norden erweist sich als aussichtsreichster Platz für die Begegnung des Menschen mit der Natur. Die weitläufigen vereisten Gebiete sind einer der Standortvorteile: Spuren auf dem Eis zu verfolgen ist um ein Vielfaches leichter als im undurchdringlichen Dickicht. Wenn man zudem auch noch die Migrationspfade kennt, kann man die Begegnung mit dem gesuchten Tier praktisch zu einhundert Prozent garantieren. Dieses Wissen ist es auch, mit dem hier am Polarkreis, an der Grenze Kareliens zum Gebiet Murmansk, praktisch alle Fremdenführer ihren Lebensunterhalt verdienen.

Zum Frühjahr hin versammeln die bärtigen Schönheiten sich dort, wo die kleinen Buchten noch zugefroren sind. Das Eis ist zu dieser Zeit bereits recht dünn. Es sieht so aus, als ob es fast schon geschmolzen wäre, aber tatsächlich kann es die paar Zentner einer Seerobbe noch aushalten. Die Seerobben sind hervorragende „Eisbrecher", sie können unter einer Eisscholle, wo immer sie wollen, hervortauchen und sichern sich damit ihr Überleben: Ein Mensch gelangt nicht geräuschlos hierher und für die Eisbären ist der Weg vom Ufer zu gefährlich.

 

Entwicklung der vergangenen Jahre macht Mut

Während wir warten, friert der Finger fast am Auslöser des Fotoapparats fest und der eisige Wind bringt die Augen zum Tränen. All diese Strapazen scheinen aber für die Öko-Touristen keine Rolle zu spielen.

Die Entwicklung in den vergangenen Jahre ist das, wovon die Tierschützer geträumt haben: die jahrhundertelange Tradition der Seerobbenjagd durch

den Öko-Tourismus zu ersetzen. Vor einigen Jahren nahmen weltweit die Proteste gegen das Abschlachten der Grönland-Seerobben zu – vor allem gegen das der hilflosen Babys und der trägen Jungtiere. Dieses Gewerbe war in Russland und anderen Ländern des Nordens wie Norwegen, Dänemark und Kanada weit verbreitet. Während einer Jagdsaison, die in der Regel gerade einmal zehn Tage dauerte, wurden Zehntausende Robbenbabys erschlagen. Innerhalb nur eines Jahres konnten die Tierschutzaktivisten einen ungeahnten Erfolg verbuchen: das vollständige Jagdverbot auf Jungtiere der Seerobben in Russland, das seit März 2009 in Kraft ist.

 

Touren im März und Mai

„Die Seerobbensafaris können nur während eines recht kurzen Zeitraums durchgeführt werden", erzählt der Reiseleiter. „Die Seerobbenjungen kommen Anfang März zur Welt. Ihr Fell behält seine schneeweiße Farbe gerade einmal zwei Wochen lang, solange sie gesäugt werden. Während dieser Zeit organisieren wir mit Hubschraubern Flüge aus Archangelsk zu den Eisschollen. Die Touristen verbringen einen ganzen Tag in einem solchen ‚Kindergarten'."

Die jungen Seerobben sind sehr zutraulich und kennen keine Angst. Man kann sich ihnen ohne Probleme nähern, sich mit ihnen fotografieren lassen und sie sogar streicheln – am besten in Handschuhen, auch wenn der Geruch des Menschen sich auf das Verhältnis zwischen Mutter und Jungtier in keiner Weise auswirkt. Die heranwachsenden und erwachsenen Seerobben lassen sich viel schwerer auffinden.

„Wir stellen deshalb nur eine Gruppe im Jahr zusammen, Anfang Mai", fährt Michail fort. „Zu dieser Zeit beginnt das Eis zu schmelzen, und der Weißmeer-Hering zieht in diese Region. Die Seerobben versammeln sich zu einer großen Gruppe und schlagen sich die Bäuche mit den Heringen voll. Das Eis beginnt bei uns zu dieser Zeit sehr schnell zu schmelzen: eine Woche, und man erkennt die Gegend nicht mehr wieder. Deshalb leben sie so isoliert und sind nur schwer aufzufinden."

Das Anlegemanöver eines der Boote hat endlich geklappt: Die Öko-Touristen sind fast bis zu einer dösenden Seerobbe herangefahren. Die Eisschollen unter deren Füßen erweist sich jedoch nicht als so stabil, wie sie aussah, und unter dem Gewicht des Jungtiers bricht sie auseinander, kippt auf die Seite um, verschwindet langsam im Meer und lässt nur die Schnauze der verwunderten Seerobbe an der Wasseroberfläche zurück. Die Bootsinsassen beeilen sich, lauthals lachend, diese Szene mit ihren Kameras festzuhalten.

 

Gerade auf die zutraulichen Jungrobben wird Rücksicht genommen

Die Touristen kehren zufrieden in das Basislager zurück und diskutieren, ob sie denn noch eine solche Seerobbe zu Gesicht bekommen werden.

„Vielleicht kann man sie mit einem Hering anlocken?", wird ein Vorschlag

unterbreitet. „Das bringt nicht viel! Wir haben schon alles Mögliche ausprobiert, aber sie sind sehr scheu", entgegnet Sascha und fügt mit ernster Stimme hinzu: „Und vergesst nicht, dass wir sie so zähmen und dass das für die Seerobben nicht gut ist."

Michail erklärt der Gruppe, warum: „Die Seerobben, vor allem die ganz jungen, verstehen noch nicht, was auf sie im Leben zukommt. Sie haben noch keinerlei Angst vor irgendwelchen Gefahren, vor allem nicht vor den Menschen. Und wenn wir ihnen jetzt zu verstehen geben, dass wir ungefährlich sind, werden sie ein anderes Mal, wenn ein Feind kommt, die Gefahr nicht erkennen."

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