Am Hauptplatz des russischen Dorfes Paris ragt die höchste detailgetreue Kopie des Eiffelturms in Russland in die Höhe. Sie wird als Mobilfunkmast genutzt. Foto: ITAR-TASS
Moskau, Sankt Petersburg, Nowosibirsk oder Nischnij Nowgorod, so heißen russische Städte. Doch zu Russland gehören auch Paris, Berlin, Leipzig, Kassel oder Warna – diese und noch zwei Dutzend weitere Ortschaften liegen in der Oblast Tscheljabinsk. Sie wurden nach Orten benannt, an denen die russische Armee in den Napoleonischen Kriegen militärische Erfolge erzielen konnte. Die Gründer und Namensgeber der Ortschaften waren orthodoxe Kosaken, die im südlichen Ural angesiedelt wurden. Dort sollten sie die südliche Grenze des Russischen Kaiserreichs befestigen, die Orte dienten also der Verteidigung. Alle Städte haben einen ähnlichen Grundriss: Demnach sind die Straßen im rechten Winkel zueinander gebaut.
Kassel: Kirschen-Snack mit den Nagabaiken
In Kassel im Ural kann man leider kein deutsches Bier bestellen und im Nachbardorf Paris finden auch keine Haute-Couture-Schauen statt. Dennoch sind die europäisch anmutenden Dörfer ein beliebtes Reiseziel für Touristen. Wo sonst schafft man es auch mit dem Auto in nur dreieinhalb Stunden von Berlin nach Paris?
Hier findet das beschauliche Dorfleben rund um den Brunnen auf der staubigen Dorfstraße statt oder in den niedrigen Holzhäuschen an der
Ofenheizung. Wunderschöne kleine Kirchen liegen in einer atemberaubenden Landschaft. Komfort oder gar Luxus sucht man hier vergebens, dafür aber findet man Erholung vom Großstadtstress und schließt vielleicht neue Bekanntschaften, zum Beispiel mit den Nagabaiken.
Die Nagabaiken sind eine kleine Volksgruppe von russisch-orthodoxen Tataren. Sie unterstützten die russische Armee im Kampf gegen Napoleon und marschierten gemeinsam mit dieser 1814 in Paris ein. Die Nagabaiken gelten als sehr gastfreundschaftlich, Touristen wird ein herzlicher Empfang bereitet. Oft gibt es eine Einladung zum Essen und beim Genuss der kulinarischen Köstlichkeiten der Vorfahren, wie in Butter getauchte Kirschen oder Traubenkirschen mit Zucker, hören die Nagabaiken den Besuchern aufmerksam zu, wenn diese von ihren Sitten und Gebräuchen erzählen. Russischkenntnisse helfen dabei nicht immer weiter, denn die Nagaibaken sprechen Nagaibakisch, einen tatarischen Dialekt.
Die Ortschaft Paris am Ural zählt lediglich 2 500 Einwohner und wurde vor 170 Jahren als Posten für Orenburger Kosakentruppen gegründet. Foto: Lori / Legion Media
Ihren orthodoxen Glauben sehen sie nicht ganz so eng. Sie trotzen dem Verbot des örtlichen Vorstehers der orthodoxen Kirche und üben bis heute heidnische Bräuche aus. So wird am Todestag von Familienangehörigen ein ausgiebiger Leichenschmaus abgehalten, auf dem Opfergaben dargebracht werden. Einmal im Jahr, am Gründonnerstag vor Ostern, wird die Sauna eingeheizt – doch nicht etwa für die Lebenden, sondern für die Toten. Denn die Nagaibaken glauben, dass am Gründonnerstag die Seelen ihrer Vorfahren gereinigt werden.
Im Jahr 2012, zur 200-Jahr-Feier der Schlacht gegen Napoleon, gedachten die Nagaibaken ihrer Wurzeln und Vorfahren, indem sie sich auf den Weg in die französische Hauptstadt Paris machten. Eine Busreise führte eine Delegation von Nagaibaken durch sämtliche Ortschaften in Polen, Deutschland und Frankreich, die ihre Vorfahren damals im Verband mit Kosakentruppen einnahmen. Ihr Weg führte sie auch nach Arcis-sur-Aube, Schauplatz einer erbitterten Schlacht gegen die napoleonischen Truppen, die sich geschlagen geben mussten.
Paris: Souvenir vom Eiffelturm
Die Ortschaft Paris am Ural zählt lediglich 2 500 Einwohner und wurde vor 170 Jahren als Posten für Orenburger Kosakentruppen gegründet. Der klangvolle Name der französischen Hauptstadt wurde dem Dorf zu Ehren des Einmarschs russischer Truppen in Paris nach der Niederlage Napoleons im Jahre 1814 verliehen. Ungeachtet des dörflichen Ambientes verspürt man auch im Ural ein gewisses französisches Flair. Die Dorfbewohner fahren Fahrrad statt Auto und lassen sich gerne im Friseurladen „Die Französin“ die Haare machen.
Am Hauptplatz des russischen Paris ragt die höchste detailgetreue Kopie des Eiffelturms in Russland in die Höhe. Der 50 Meter hohe Nachbau ist um das
Sechsfache kleiner und um das Einhundertsechzigfache leichter als das Original. Er wird als Mobilfunkmast genutzt. Ein Schild, das an dem russischen Eiffelturm angebracht ist, verkündet: „Der Turm wurde zu Ehren der russischen Siegestruppen errichtet“. Unweit des Eiffelturms steht ein Triumphbogen, der als Einfahrtsbegrenzung für LKW und Traktoren dient. Im Haushaltsplan des Dorfes werden jedes Jahr die Kosten für die Herstellung von Ortstafeln berücksichtigt, die regelmäßig von Touristen abmontiert und als Souvenirs mitgenommen werden.
Berlin: Die Mauer steht noch
Zwei Kilometer von der Grenze zu Kasachstan und 155 Kilometer von Tscheljabinsk entfernt liegt das Dorf Berlin. Dieses wurde vor 270 Jahren als Militärsiedlung für Orenburger Kosakentruppen gegründet. In dem kleinen Dorf wurde auch die Dreifaltigkeitsfestung angelegt und zudem Überwachungsposten, Redouten und Kordone gebaut. Seinen europäischen
Namen erhielt das Dorf zum Gedenken an den Einmarsch russischer Truppen in Berlin im Jahre 1760 während des Siebenjährigen Kriegs von 1756 bis 1763 sowie als Gedenkstätte an den Krieg gegen Napoleon im Jahre 1813. Das Dorf beeindruckt seine Besucher aber vor allem mit seiner Architektur, denn hier finden sich einzigartige Lehmziegelhäuser, die mehrere Jahrhunderte überdauerten, den Witterungsverhältnissen trotzten und das ungeheure Gewicht ihres Daches ohne Probleme tragen können. Zurzeit leben in Berlin am Ural etwa 1 000 Einwohner, wobei sich die überwiegende Mehrheit dieser der Landwirtschaft verschrieben hat. Eine der örtlichen Sehenswürdigkeiten ist die „Berliner Mauer“, eine aus Beton gebaute Abzäunung mit einer selbstironischen Inschrift.
Warna: Multikulturelles Miteinander
Ein Schild, das an dem russischen Eiffelturm im Dorf Paris angebracht ist, verkündet: „Der Turm wurde zu Ehren der russischen Siegestruppen errichtet“. Foto: Lori / Legion Media
Warna ist das größte und wohl schönste Dorf im „Europa am Ural“ und wird zu Recht als „die Perle des Südurals“ bezeichnet. Seinen Namen hat das Dorf zu Ehren der Erstürmung der bulgarischen Festung Warna im Russisch-Türkischen Krieg in den Jahren 1828 bis 1829 erhalten, als die Festung, die damals in türkischer Hand war, von russischen Soldaten zurückerobert wurde. Der europäische Dorfname wurde im Gedenken an die gefallenen Soldaten in dieser Schlacht ausgewählt. In der ehemaligen Kosakensiedlung leben bis heute Russen und Kalmücken, Mordwinen und Ukrainer sowie Weißrussen und Tataren Seite an Seite. Insgesamt zählt die Ortschaft etwa 10 000 Einwohner, die trotz ihrer kulturellen und nationalen Vielfalt friedlich nebeneinander wohnen.
Zwei Kilometer von Warna entfernt befindet sich ein architektonisches Wunder – der 17 Meter hohe Turm des Tamerlan (Kesene Mausoleum), ein Denkmal der mittelalterlichen muslimischen Grabarchitektur des 14. Jahrhunderts. Dieses Bauwerk wurde einer Legende zufolge von Timur
Tamerlan, einem berühmten mittelasiatischen Eroberer des 14. Jahrhunderts, über dem Grab seiner Tochter errichtet. Diese hatte sich in einen einfachen Soldaten verliebt und war mit ihm davongelaufen. Timur Tamerlan folgte den beiden Flüchtigen und holte sie ein, woraufhin er im Zorn den Liebsten seiner Tochter ermordete. Tamerlans Tochter verkraftete diesen Verlust nicht und nahm sich das Leben. Heute handelt es sich bei dem Turm um eine Kultstätte, die von frisch verheirateten Paaren aus ganz Russland besucht wird, um dort ein Tuch an den Gittern zum Zeichen ihrer Liebe und Treue festzubinden.
Das Französische Schloss: Geheimes Gold
Eine weitere bedeutende „europäische“ Sehenswürdigkeit befindet sich zwei Kilometer nordöstlich des Dorfes Naily in der Region Tscheljabinsk. Im Wald des sogenannten Französischen Bergs befindet sich die Ruine des „Französischen Schlosses“ – dem Hauptgebäude einer Fabrik zur Anreicherung von Asbest. Dort wurde in den Jahren 1878 bis 1915 Asbest unter französischer Führung hergestellt, wobei die Zarenregierung den französischen Fabrikbetreibern auch ein Grundstück zur Förderung von
Bodenschätzen übergab. Gleichzeitig bargen die Franzosen Berggold im Fluss Miass, das sie in Verstecken bunkerten. Davon zeugen heute noch die geheimen Nischen in den Wänden des Schlosses. Die Überreste des Schlosses setzen sich aus der Schlossruine und überfluteten Schachten zusammen. Zudem sind auch ein Weg zur Bergspitze, Treppen in den Wald und eine aus dem Ornamentstein Serpentin bestehende Müllhalde erhalten geblieben. Der Französische Berg überwältigt seine Besucher mit einem einzigartigen Ausblick auf das Flusstal des Miass und auf das imposante Ilmergebirge.
Wer in das „Europa am Ural" reisen möchte, kann sich im Zentrum zur Entwicklung des Tourismus in der Region Tschjabinsk informieren und erhält, wenn gewünscht, auch Unterstützung bei der Reiseplanung: http://tourizm74.ru/ (nur auf Russisch verfügbar), E-Mail: ogbuk_crt@mail.ru, Telefon + 7 351 263 12 24.
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