In der Nacht des 23. September 2021 machte sich eine Gruppe von 19 Personen auf den Weg zum Sattel des Elbrus-Passes, der mit 5.416 Metern über dem Meeresspiegel der Ausgangspunkt für den Aufstieg zum Gipfel ist. Es wehte ein starker Wind, aber das Wetter wurde als „stabil“ eingestuft. Der Organisator des Aufstiegs, Denis Alimow, sagte später: „Wir sind nachts losgezogen, weil es ein Wetterfenster gab. Nicht ideal, nicht das Beste, aber es war für die nächsten fünf Tage die einzige Möglichkeit [den Gipfel zu erreichen].“
Als der Gipfel nur noch 100 Meter entfernt war, schlug das Wetter plötzlich um: Der Wind nahm zu und der Luftdruck fiel. Eine der Teilnehmerinnen, die Manikür-Meisterin Anna Makarowa, fühlte sich plötzlich unwohl. Sie wurde zum Bergsattel zurückgebracht, aber selbst die geringere Höhe brachte ihr keine Erleichterung. Sie verlor das Bewusstsein. „Der Bergführer versuchte, sie mit Salmiakgeist zu Bewusstsein zu bringen, gab ihr Tee - nichts half“, erzählte Alimow. Makarowa verstarb eine Stunde später in den Armen des Bergführers.
Zur gleichen Zeit setzte die Hauptgruppe ihren Aufstieg fort. Doch schon bald verringerte sich die Sicht auf einen halben Meter, dichter Schneefall setzte ein, die Temperatur fiel auf -20 °C und die Windgeschwindigkeit stieg auf 40 – 70 m/s. Dann, ohne den Gipfel erreicht zu haben, begann die Gruppe gemeinsam den Abstieg – aber ohne Erfolg. „Wir hatten uns verlaufen. Wir rutschten 100 Meter auf Gletschereis hinab und schafften es nicht, unsere Eispickel in den Boden zu rammen. Einer von uns brach sich das Bein. Wir setzten sofort einen Notruf mit den Geo-Koordinaten an das Ministerium für Notsituationen ab. Nach zwei Stunden gaben wir das Warten auf Hilfe auf und trugen den Mann nach unten“, erzählte der Musiker Dmitri Parachin.
Während das gebrochene Bein fixiert wurde, begannen die übrigen Teilnehmer vor Kälte zu erstarren. Erst um 17.00 Uhr war es möglich, per Funk mit den Rettungskräften Kontakt aufzunehmen – dies geschah durch den Bergführer, der zuvor Anna Makarowa nach unten gebracht hatte. Zwei Teilnehmer verloren das Bewusstsein und starben noch vor Ort, zwei weitere auf den Tragen der Retter. Die Bergführer hatten sich schwere Erfrierungen und Verletzungen zugezogen, einer von ihnen war vom Schnee praktisch erblindet.
Die Besteigung des Elbrus ist in ihrer technischen Einfachheit sehr trügerisch. Tatsächlich braucht man dafür wirklich keine bergsteigerischen Voraussetzungen mitzubringen. Wenn man sich nicht verirrt, muss man keine felsigen Abschnitte überwinden, in denen Karabiner, Haken und Seile benötigt werden – man steigt einfach nach oben und das war's. Aus diesem Grund wird der Elbrus oft von Menschen bestiegen, für die er der erste Berg ihres Lebens ist. Rentner und Jugendliche gehen dort hin oder Büroangestellte im Rahmen eines „Betriebsausflugs“. Jeden Tag kommen Dutzende Menschen aus aller Welt hierher. Das Geschäft mit kommerziellen Touren auf den Gipfel des Elbrus boomt. Dennoch fordert der Berg jedes Jahr durchschnittlich 15 – 20 Menschenleben.
Es gibt mehrere Routen zum Elbrus: Der Berg wird von Norden, Osten und Westen angefahren, während die einfachste Route von Süden her durch das Dorf Terskol führt. Die meisten Gruppen starten ihre Expeditionen von dieser Seite aus (so auch die oben erwähnte Gruppe).
„Die Besteigung des Elbrus gilt als einfach, vor allem weil es Seilbahnen gibt“, erklärt der Bergsteiger Alexander Jakowenko. Die Seilbahn führt auf eine Höhe von 3.850 Metern, was bedeutet, dass man mehr als die Hälfte der Strecke im Sessel sitzend zurücklegt. Und nach Lust und Laune kann man mit dem Motorschlitten oder einer Pistenraupe auf die Marke von 4.800 Metern hinauffahren. Folglich ist es zu Fuß bis nach ganz oben nicht mehr so weit. Jakowenko nahm seine Tochter mit auf den Gipfel, als sie 14 Jahre alt war.
Rettungskräfte
SputnikAlexander Sucharew, der Besitzer der Firma Elbrus Climbing (die vor ihrer Umbenennung noch Strachu Njet - Keine Angst - hieß), betont in einem Gespräch mit Russia Beyond, dass der Berg einfach ist: Es gibt keine komplizierten technischen Elemente und auch keine lawinengefährdeten Gebiete am Berg selbst. „Zumindest auf den Routen, auf denen Wanderer unterwegs sind. Lawinengefährdete Gebiete gibt es nur in den Tälern, wo sich der Schnee sammelt. Lawinen kommen nur im Winter und im zeitigen Frühjahr vor. Aber das hat nichts mit dem Kraxeln zu tun. Der Schwierigkeitsgrad des Elbrus ist mit 1B eingestuft, was bedeutet, dass praktisch jeder, der gesund ist, den Gipfel ohne spezielles Training erklimmen kann“.
Sucharew erinnert sich an einen Mann ohne beide Beine, der kürzlich den Gipfel erklommen hat, sowie an zwei seiner Kunden – einer war 80 Jahre alt, der andere über 80. „Der Ältere kletterte mit einem Sauerstoffgerät, der Achtzigjährige ohne. Das will doch etwas heißen, oder?“
Viktor Salejew, ein 29-jähriger Marketingfachmann aus Kaliningrad, bestieg den Elbrus ebenfalls im Rahmen einer kommerziellen Tour im August 2020. „Ich bin wegen des Abenteuers, der Ästhetik des Trekkings und der sportlichen Herausforderung in die Berge gegangen“, sagt er. Trotz seiner mangelnden Erfahrung wählte er die Ostroute wegen ihrer „Sportlichkeit“, er wollte den ganzen Weg auf seinen eigenen Füßen gehen. „Sie gilt als 'wild', da es keine Schutzhütten, Seilbahnen oder Skilifte gibt und die gesamte Strecke zu Fuß und in voller Ausrüstung bewältigt wird“, erzählt Viktor.
Ihm wurde klar, dass er während der gesamten zehn Tage einen 35 kg schweren Rucksack tragen würde. Sechs Monate vor der Besteigung begann er mit dem Ausdauertraining und ging ins Fitnessstudio. „Meine Erwartungen an das Trekking wurden voll erfüllt. Aber wenn Reiseveranstalter sagen, dass die Route für Menschen aller körperlichen Fähigkeiten geeignet ist, kann das irreführend sein“, so der Marketingexperte. „Alle in unserer Gruppe hielten durch, aber einige nur unter Schmerzen und Leiden, am Rande ihrer Kräfte.“
In den letzten Jahren hat die Zahl der Opfer am Elbrus zugenommen, was Fachleute auf die Beliebtheit des Bergtourismus und das Fehlen jeglicher Hindernisse für den Aufstieg zurückführen. Zu Sowjetzeiten musste man dem Kontroll- und Rettungsdienst noch nachweisen, dass man eine entsprechende Vorbereitung absolviert hatte, um den Elbrus besteigen zu dürfen. Heute gibt es niemanden mehr, der den Verkehr kontrolliert, und es gibt auch niemanden, der die Gesundheit und die körperlichen Fähigkeiten der Bergsteiger überprüft.
Auch was „Höhe“ bedeutet, ist nicht jedem klar. Jakowenko erinnert daran, dass ein Testpilot in einer Höhe von 3.000 Metern automatisch die Sauerstoffmaske aufsetzt „In dieser Höhe gibt es nur halb so viel Sauerstoff wie hier auf dem Boden. Können Sie sich vorstellen, was bei 5.000 m passiert? Der Körper vieler Menschen ist der Belastung einfach nicht gewachsen“, sagt er und betont, dass es wichtig sei, seine Grenzen zu erkennen und aufzuhören, was manche nicht täten, um sich nicht lächerlich zu machen.
Im Mai dieses Jahres bestieg der Russia-Beyond-Korrespondent Nikolai Litowkin den Elbrus ebenfalls von Süden her, wobei er die einfachste Route mit Hotelübernachtungen wählte. Die Hälfte der Gruppe waren Boxer, die regelmäßig zu Wettkämpfen reisen. Nach den ersten beiden Tagen mit Akklimatisierungsmärschen von 15 Kilometern am Elbrus hätten sich seine Meniskusprobleme verschlimmert, sagt Nikolai – seine Beine „versagten“. Einer der Boxer erkrankte in 4.800 km Höhe an der „Bergkrankheit“ – er verließ sein Nachtlager und beschloss, nachts einen Spaziergang zu unternehmen: Dabei fiel er in den Schnee und konnte sich nicht selbst befreien; er wurde fast bewusstlos aufgefunden. Ein anderer Teilnehmer hatte in der Höhe eine Körpertemperatur von bis zu 40 °C und bekam Atemprobleme und Husten. Wie sich herausstellte, war er an Covid erkrankt, ohne es zu wissen, aber erst in den Bergen traten die Symptome auf. „Ich dachte: Was für ein Kerl?! Er hat durchgehalten und ist da hoch. Doch der Elbrus sieht das offensichtlich ganz anders. Wenn einem die Beine versagen oder man aufgrund des Sauerstoffmangels Halluzinationen bekommt – ich wusste gar nicht, dass so etwas passieren kann. Ich bin gleich beim ersten Biwak unten zurück geblieben“, berichtet Nikolai.
Ein weiterer Faktor ist der plötzliche Wetterumschwung. Alles kann sich buchstäblich in einer halben Stunde ändern. Viktor Salejew, der 2020 aufgestiegen war, schaffte es nicht bis zum Gipfel: „Das passiert oft. Wir gerieten in einen Zyklon (Schneesturm, keine Sicht, Wind bis zu 50 m/s), wir schafften es während des Akklimatisierungsversuchs bis auf 5.100 Meter, aber danach brach das Wetter zusammen. Wir blieben mehrere Tage im Basislager im Zelt und stiegen dann ab“.
Allerdings sollten weder die Höhenkrankheit noch schlechtes Wetter zum Tode führen, auch nicht am Elbrus. Eine „Versicherung“ dagegen sollte von qualifizierten Führern angeboten werden. Aber da liegt das Problem.
„Leider kann sich heutzutage jedermann Bergführer nennen. Auf dem Elbrus herrscht ein völliges Durcheinander, das in keiner Weise geregelt oder kontrolliert wird“, erklärt Sucharew. Er sagt, dass es im Kaukasus eine Vielzahl solcher Unternehmen und privater Bergführer gäbe, von denen einige ohne Reiseveranstalterlizenz arbeiteten und nicht als Bergführer qualifiziert seien.
„Da denkt jemand, der ein paar Mal bei gutem Wetter auf den Elbrus gestiegen ist, das sei nicht schwierig und er könne die Leute hinbringen“, erklärt er.
Sucharew zufolge ist das, was der Gruppe widerfahren ist, bei der fünf Menschen ums Leben kamen, „ein absolut logisches Ergebnis“: „Sie hatten zwei Tragödien auf einer Wanderung, und das kann kein Zufall sein. Der erste Todesfall, so Sucharew, hatte nichts mit den anderen zu tun, aber sie haben eines gemeinsam – die mangelnde Kompetenz der Organisatoren.“ Er listet die Fragen auf, die die Ermittlungen nun mit Sicherheit aufwerfen werden: Warum hatten die Führer kein Satellitentelefon und kein GPS, sondern nur eine Art Walkie-Talkie? Warum gab es für die Gruppe keine Sauerstoffgeräte? Warum kehrten sie nicht um, als sich das Wetter zu verschlechtern begann?
In derselben Nacht, am 23. September, war eine Gruppe der Elbrus Climbing dort. Sucharew sagt, dass die Vorhersage so war, dass es keinen Grund gab, überhaupt irgendwohin zu gehen, aber die Touristen waren sehr erpicht darauf, den Versuch zu unternehmen – vor allem, weil andere Gruppen auch gehen wollten.
„Und unser Bergiführer beschloss, es zu versuchen, denn das Zeitfenster war kurz. Aber er ist ein Profi und kann die aktuelle Situation einschätzen. Er machte mit der Gruppe sofort kehrt, als er sah, dass sich das Wetter verschlechterte. Sie [andere Bergführer] sagen, dass sich das Wetter urplötzlich geändert habe. So etwas gibt es in den Bergen nicht, es gibt keinen Schalter“, entrüstet sich Sucharew. „Aber es kommt vor, dass ein nicht-professioneller Bergführer die Anzeichen für eine Verschlechterung des Wetters nicht erkennt und es für ihn wie eine 'urplötzliche' Veränderung aussieht.“
Vier Tage nach dem Tod der fünf Touristen auf dem Elbrus hat das russische Ermittlungskomitee den Reiseveranstalter Denis Alimow, den Inhaber des Unternehmens Elbrus Guide in Pjatigorsk festgenommen. Die Ermittler erklärten, dass Alimow selbst seine Schuld eingestanden und „ein detailliertes Geständnis abgelegt“ habe. Er gab an, dass er sich bei der Berechnung des Aufstiegs im Monat geirrt und das Wetter falsch prognostiziert habe. Alimow kam für zwei Monate in Polizeigewahrsam. Seine Firma wirbt laut ihrer Website jedoch weiterhin Gruppen an, und zwar bereits für 2022.
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