Foto: risk.ru
In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist! Wenn ich diese faschistoide Losung höre, wird mir ganz schlecht. Leider hat sie Faschismus und Stalinismus überdauert und geistert bis heute in vielen Köpfen herum.
Vielleicht ist diese blöde Losung auch mit daran schuld, dass es Behinderte in Russland besonders schwer haben. Klar, alle haben es hier schwerer als im guten alten Europa, hier sind die Bandagen härter. Die Untersuchungshaft ist hier weitaus schlimmer zu ertragen, die Haft erst recht, auch in Altersheimen, soweit es sie gibt, sollte man lieber nicht alt werden und so weiter und so fort.
Als ob behinderten Menschen ein Makel oder ein Fluch anhaftet, kommen sie hier im öffentlichen Leben kaum vor. Erst vor ganz kurzer Zeit wurden
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zaghafte Schritte zur Verbesserung der Lage gewagt. Zu Sowjetzeiten kamen Behinderte nur als Bettler im Straßenbild vor. Sie hockten auf ihren Beinstümpfen, die auf zwei Holzbrettchen mit Rollen dran ruhten und bewegten sich durch Abstoßen mit den Armen vorwärts. Dieser Anblick hat uns als Studenten Mitte der 70er Jahre schockiert, wir waren nicht darauf vorbereitet.
In den wilden 90ern und leider bis heute versuchen gewissenlose Typen mit Behinderten Geld zu machen. Besonders hoch im Kurs stehen Bein- und Armamputierte. Sie werden eingesammelt, in Militärklamotten gesteckt (so als hätten sie in Afghanistan oder Tschetschenien ihre Gliedmaßen eingebüßt) und in Rollstühlen an Straßenkreuzungen aufgestellt oder in der Metro herum gekarrt.
Abends kommen sie in Behausungen außerhalb der Stadt, das Geld wird ihnen abgenommen, den Pass waren sie schon vorher losgeworden, es gibt Schnaps und einen Imbiss. Und am nächsten Morgen dasselbe Spiel.
Es gibt wohl keine Stadt im großen Lande, die wenigstens ein bisschen Behinderten gerecht wäre. Hohe Bordsteinkanten, steile Treppen, unbequeme Einstiege in öffentliche Verkehrsmittel. Um aus Straßenbahnen auszusteigen oder aus Zügen möchte man am liebsten Fallschirmjäger sein, so hoch ist das manchmal. Um Schwarzfahrten zu minimieren, wurden in Bahnen und Bussen in Moskau Drehkreuze installiert. Da kommt kein Behinderter durch! Geht es ja schon mit größeren Taschen nur mit Stress und Gerempel.
In einigen öffentlichen Einrichtungen finden wir nun schon hin und wieder Vorrichtungen, die Behinderte in die Gebäude transportieren. Das sind aber sperrige Anlagen, die wenig Vertrauen einflößen. Oft ersetzen zwei auf die Treppen aufgesetzte Schienen eine normale befahrbare Schräge. Auf diesen Schienen trauen sich nicht mal die Mütter ihre Kinderwagen nach unten zu hieven, geschweige denn Behinderte wagen eine Schussfahrt.
Um guten Willen zu zeigen und auch gleich noch ein bisschen ein paar Beamtentaschen mit zu füllen, kam man vor kurzem auf die glorreiche Idee, an Straßenübergängen nicht nur einfach die Bordsteinkanten abzusenken, sondern man wollte auch gleich den Blinden zeigen, dass man hier die Straße überqueren kann. Dazu wurden geriffelte Betonplatten in den Asphalt der Bürgersteige versenkt. Und weil es für Blinde ist, wurden sie gelb angepinselt.
Diese geriffelten Ungetüme sind wahre Stolpersteine für alle Passanten, und sie sind krumm und schief und an allen möglichen und unmöglichen Stellen zu finden. Im Winter vereisen sie schön, was sie kreuzgefährlich macht. Der Nutzen dieser gelben Ungetüme ist wohl schwer nachweisbar. Dafür gibt es nun aber schon recht viele Ampeln, die mit einem durchdringenden Piepton den Blinden signalisieren, dass sie jetzt die Straße überqueren können.
Genau an meinem Haus piepte die Ampel ganze zwei Tage, dann waren wohl einige Anwohner davon genervt und nun schweigt sie wieder wie früher. Nur die gelbe Buckelpiste kündet jetzt von einem Übergang.
Meine Bekannte begleitete die Klasse ihrer Tochter auf einer Klassenfahrt nach Deutschland. Sie stiegen in einer Jugendherberge bei Kiel ab, erkundeten das Land und trafen sich in verschiedenen Schulen mit ihren Altersgenossen. Wie groß war ihr Erstaunen, als sie in einer Schule behinderte Kinder zusammen mit nicht behinderten lernen sahen. Sie waren stark beeindruckt vom Umgang der Kinder miteinander. Das hat ihnen Stoff zum Nachdenken und Fragen gegeben.
Verschiedene Projekte wollen jetzt die Integration von Behinderten in alle Sphären des öffentlichen Lebens voran bringen. Auch deutsche Firmen engagieren sich sehr stark dabei. Der als oppositionell bezeichnete Fernsehsender „Doschd", ist auch hier den anderen um einiges voraus. Sie haben dort eine junge, kluge und sehr charmante Moderatorin eingestellt, die im Rollstuhl sitzt. Hinter den Kulissen arbeiten behinderte Visagistinnen und Buchhalterinnen. Na bitte, es geht doch!
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