Herz aus dem Reagenzglas

Der Wissenschaftler Konstantin Agladse. Foto: Rossijskaja Gaseta

Der Wissenschaftler Konstantin Agladse. Foto: Rossijskaja Gaseta

Die Medizin befindet sich an der Schwelle zu einer neuen technologischen Revolution. Kürzlich hat der renommierte, russische Wissenschaftler Konstantin Agladse erstmals vollwertiges Herzgewebe im Reagenzglas gezüchtet. Was das für die Zukunft bedeutet, erklärt der Wissenschaftler im Interview.

An Neuigkeiten aus der Stammzellenmedizin haben wir uns bereits gewöhnt. Praktisch im Wochentakt beschert uns das Internet eine neue Sensation über irgendein fantastisches Projekt mit Zellen. Doch dabei geht es stets um einzelne Experimente, deren Methoden in der Alltagspraxis noch sehr lange keine Verwendung finden werden.

Für solche Experimente kommen Stammzellen zur Verwendung, die aus menschlichen Embryonen gewonnen werden. Solche Zellen können in praktisch alles verwandelt werden, je nach Wunsch des Wissenschaftlers. Sie können beispielsweise zu Herzmuskel-, Knochen-, Leber-, Haut- oder Hirnzellen werden. Insgesamt gibt es in unseren Geweben mehr als 200 verschiedene Arten. Doch die weitere Verwendung solcher Zellen stößt auf ernste ethische und moralische Probleme.

Ganze fünf Jahre ist es her, seit sich die Situation dank dem japanischen Forscher Shinya Yamanaka grundlegend verändert hat. Der Mensch ist selbst zum Stammzellengeber für die Herstellung von Organen geworden. Eines der vielversprechendsten Experimente hat der russische Wissenschaftler Konstantin Agladse durchgeführt. Zusammen mit japanischen Forschern der Universität Kyōto brachte er es fertig, erstmals vollwertiges Herzgewebe im Reagenzglas zu züchten.

 

Was können Sie uns über Ihre Entdeckung berichten? Worin liegt die Innovation?

Wir sprechen hier von Ingenieursarbeit fürs Gewebe. Es geht nicht nur darum, dass wir aus Stammzellen ein vollwertiges menschliches Herzmuskelgewebe künstlich produziert haben. Einzelne Zellen konnten schon früher gezüchtet werden, aber nur in kleinen Mengen. Wir haben es geschafft, strukturiertes Herzmuskelgewebe mithilfe einer dreidimensionalen Karkasse aus speziellen polymeren Nanofasern herzustellen. Mit dieser Karkasse konnten wir nicht nur Herzmuskeln züchten, sondern diese auch dazu bringen, dass sie sich zu einem vollwertigen Herzmuskelgewebe formten.

Kann man denn aus diesem Gewebe ein Herz herstellen?

Prinzipiell ist das möglich, aber wir haben unser Gewebe in erster Linie mit dem Ziel geschaffen, Arzneimittel zu testen. Die pharmazeutische Industrie ist bei der Entwicklung neuer Präparate sehr auf solche Modelle des Herzmuskelgewebes angewiesen. Bisher wird das Testen eines Medikaments an einzelnen Organen durch Tierversuche ersetzt. Aber Tiere haben andere Herzzellen als Menschen. Unsere Forschung schließt so eine wichtige Lücke und wird dazu beitragen, dass neue Heilmittel effizienter und kostensparender entwickelt werden können.

Wir arbeiten auch an einer zweiten Aufgabe: dem Umprogrammieren von patienteneigenen Zellen in Herzzellen (Kardiomyoziten), aus denen man Implantate züchten könnte, die vom menschlichen Organismus nicht abgewiesen werden. Das ist eine Richtung der regenerativen Biomedizin, an der besonders aktiv gearbeitet wird: sogenannte Pflaster für das Herzmuskelgewebe. Es wird davon ausgegangen, dass man solche Pflaster in Zukunft auf beschädigtes Herzmuskelgewebe legen und annähen kann.

Im Herstellungsprozess solcher Pflaster werden Polymere verwendet. Können diese Materialien irgendwelche Nebenwirkungen auslösen?

Da unsere Methode auf der Verwendung eigener pluripotenter Zellen aufbaut, fällt die Immunbarrieren-Problematik von selbst weg. Die Nanofasern, die die Karkassen bilden, sind aus biologisch abbaubarem Material hergestellt, das sich während des Heilungs- und Regenerationsprozesses des Patienten vollständig im Blut auflöst.

Könnte man mit diesem Konstruktionssystem auch andere Organe, beispielsweise eine neue Leber, heranzüchten?

Anwendungen kann es potenziell sehr viele geben, aber die Praxis liegt noch in weiter Ferne.

 

Die ungekürzte Fassung dieses Beitrags erschien zuerst bei der Zeitschrift "Ogonjok".

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