Während für die nahe Zukunft in Europa mit einem eher stagnierenden Wachstum zu rechnen ist, profitiert Russlands Automarkt von der niedrigen Marktsättigung. Foto: RIA Novosti
Otto von Bismarcks Erkenntnis „Die Russen spannen langsam ein, fahren jedoch schnell“ scheint für die Kraftfahrzeugindustrie ganz aktuell zu sein. Am Wachstum des russischen Automarktes will auch die Automobilproduktion in Russland partizipieren. Sie ist auf dem Wege, Deutschland als größten europäischen Produzenten einzuholen und in den kommenden Jahren der größte Automobilproduzent in Europa zu werden.
Der Privatbesitz von Autos, der zu Sowjetzeiten zu Gunsten des öffentlichen Personenverkehrs zurückgedrängt wurde, erlebt seit der Jahrtausendwende einen beispiellosen Boom. Allein im vergangenen Jahr wurden bereits knapp drei Millionen Fahrzeuge abgesetzt. Das Wachstum im Jahre 2012 betrug zwölf Prozent. Die Wirtschaftsvereinigung Association of European Businesses (AEB) nimmt das als Zeichen, dass die Folgen der globalen Wirtschaftskrise von 2009 endgültig überwunden sind. Im Gegensatz zu den überwältigen Zahlen in Russland sieht es in der Europäischen Union schlecht aus: Der Fahrzeugabsatz sank um 8,2 Prozent auf zwölf Millionen Fahrzeuge im letzten Jahr. Das ist der geringste Wert in den letzten 17 Jahren, wie der Verband der europäischen Autohersteller European Automobile Manufacturers' Association (ACEA) festgestellte. Deutschland, der größte Markt des Kontinents, musste einen Rückgang von 2,9 Prozent auf 3,08 Millionen abgesetzte Einheiten hinnehmen.
Russlands Ministerium für Industrie und Handel sagt indes ein dauerhaftes Wachstum des einheimischen Automarktes auf 4,17 Millionen Fahrzeuge pro Jahr bis 2020 voraus, wobei angenommen wird, dass 3,75 Millionen davon in Russland montiert werden. PricewaterhouseCoopers ist mit seiner Prognose von 3,5 Millionen etwas konservativer.
Internationale Konzerne drängen auf den Markt
Einer der wesentlichen Gründe für den Boom des russischen Automarkts ist ironischerweise derselbe hohe Erdölpreis, der die Amerikaner im letzten Jahrzehnt so stark gebeutelt hat. Als zweitgrößter Erdölexporteur der Welt haben die Russen ihr nominales Monatseinkommen im letzten Jahrzehnt um das Sechzehnfache auf umgerechnet 800 US-Dollar im letzten Jahr gesteigert. In Verbindung mit einem schnell wachsenden Kreditmarkt und sich verbessernden demographischen Daten hat das dazu geführt, dass das Land sich in den meisten Bereichen zu Europas größtem Absatzmarkt entwickelt hat – angefangen bei Mobiltelefonen bis hin zu Kindersachen.
Dieser Markt zieht internationale Konzerne magisch an. Die Autokonzerne bilden da keine Ausnahme. Der nach Russlands WTO-Beitritt im letzten Jahr erhobene Einfuhrzoll von 30 Prozent auf Neuwagen stimulierte die Einfuhr von montagefertigen Autobausätzen, die anschließend im Lande montiert werden. Das staatliche Programm zur Förderung der lokalen Produktion durch niedrige Steuern auf Autoteile tat ein Übriges.
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Ford war der erste Autobauer, der 2002 nach Russland kam und in Wsewoloschsk in der Nähe von St. Petersburg ein Werk errichtete. Es folgten Renault (2005), Volkswagen (2007), Toyota (2007), General Motors (2008), Peugeot/Citroen/Mitsubishi (2010) und Hyundai (2011). Laut AEB stieg die Zahl der im Lande endmontierten ausländischen Fahrzeuge, die in Russland abgesetzt wurden, von 290 000 im Jahre 2007 auf 1,22 Millionen im Jahre 2012. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der importierten Komplettwagen von 750 000 lediglich auf 970 000 Einheiten. Die Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers schätzt, dass die Fahrzeuge aus russischer Produktion in diesem Jahr noch 1,33 Millionen Einheiten erreichen und damit die Importe, die bei 990 000 Einheiten liegen dürften, übertreffen werden. Insgesamt würden dann ausländische Pkw-Marken im Wert von 70 Milliarden US-Dollar auf russischen Straßen rollen.
Die russische Regierung will mit ihrer Strategie die einheimische Autoproduktion ankurbeln und ausländische Technologien in das Land holen. Die Verträge mit ausländischen Partnern, die zwischen 2005 und 2007 geschlossen wurden, stellten noch recht geringe Anforderungen. Die internationalen Konzerne mussten einen Lokalisierungsgrad bis zu 30 Prozent und nur einen kleinen Produktionsausstoß erreichen. Einige Vereinbarungen sahen gerade einmal 25 000 Fahrzeuge pro Jahr vor. Diese Vertragsgestaltung lud die ausländischen Automobilkonzerne ein, den russischen Markt zunächst einmal nur zu testen.
Die jüngeren Abkommen, die im Jahre 2011 mit Renault-Nissan, General Motors, Ford oder Volkswagen geschlossen wurden, sehen bereits einen lokalen Produktionsanteil von 60 Prozent und einen Ausstoß von mindestens 300 000 Autos jährlich vor. Im Gegenzug ist den Unternehmen eine Importzollbefreiung für Kfz-Bauteile für den Zeitraum bis zum 1. Juli 2018 garantiert worden. Infolgedessen wuchs der Markt für importierte Autobausätze des Landes im letzten Jahr um acht Prozent auf umgerechnet 41,8 Milliarden US-Dollar.
Klein- und Kompaktwagen machen das Rennen
Während für die nahe Zukunft in Europa mit einem eher stagnierenden Wachstum zu rechnen ist, profitiert Russlands Automarkt von der niedrigen Marktsättigung. Sie beträgt 250 Pkw pro 1 000 Einwohner gegenüber 500 in Europa und 750 in den USA. Außerdem werden in absehbarer Zeit die hohen Zinsen für Autokredite (derzeit 15 bis 17 Prozent p. a.) und die Kosten für die Kfz-Versicherung (momentan fünf bis zehn Prozent des Fahrzeugwertes gegenüber drei bis fünf Prozent auf den entwickelten Märkten außerhalb Russlands) sinken. „Die Versicherung in Russland ist aufgrund der schlechten Klimabedingungen und der miserablen Straßenverhältnisse heute sehr teuer“, sagt Sergej Litwinenko, Senior Manager bei PricewaterhouseCoopers Russia. „Auf lange Sicht rechne ich damit, dass der russische Markt sich dank besseren Straßen und Infrastruktur dem restlichen Europa angleichen wird."
Auf die Frage, ob die meisten Russen große Luxusautos, Geländewagen oder einen "SUV" (Sport Utility Vehicle, d. i. Sport- und Geländelimousine) fahren, antwortet Litwinenko: „Das ist ein Mythos. Die Statistik belegt eher das Gegenteil. Beim Neuwagenverkauf liegen kompakte und wirtschaftliche Wagen vorn. Das betrifft sowohl einheimische wie auch die ausländischen Modelle. Bei den boomenden Marktaussichten werden letztlich wie in Westeuropa auch Klein- und Kompaktwagen den Sieg davontragen."
Auch ein anderer Trend, der sich gegenwärtig weltweit beobachten lässt und in Russland nicht außer Acht gelassen werden darf, ist das Premium-Segment für kleinere und preiswerte Pkw und SUV. Beispiele dafür sind der Audi Q3 oder der BMW X1. "Auch dieses Segment wird mit Sicherheit ein großer Erfolg bei markenbesessenen Russen“, blickt Litwinenko in die Zukunft.
Schwerer Stand für die einheimischen Akteure
Die staatliche Politik und das steigende Einkommen der Bevölkerung haben die einheimischen Fahrzeughersteller allerdings schwer getroffen, denn ihre Produkte gelten vielen Russen als minderwertig. Die Ursachen sind bekannt: überholte Konstruktions- und Montagetechnologien, heruntergewirtschaftete Anlagen und mangelhafte Einzelteile. Ihr früherer Wettbewerbsvorteil, der niedrige Preis, ist dahin. Denn die immer wohlhabenderen einheimischen Verbraucher wollen auch immer bessere Erzeugnisse.
„In den letzten zwanzig Jahren ist die Produktion fast aller einheimischer Automodelle – vom elitären Wolga bis hin zum Moskwitsch, dem Wagen für
den Otto-Normal-Verbraucher, eingestellt worden“, bestätigt Sergej Udalow, Direktor der Analyseagentur Awtostat. Der Absatz von Neuwagen russischer Marken fiel von seinem Spitzenwert von 920 000 im Jahre 2002 auf 580 000 im letzten Jahr. Unter den Personenkraftwagen haben nur die Lada-Limousinen aus dem Automobilwerk AwtoWAS Togliatti und die UAZ-Geländewagen und SUV - aus der Uljanowsker Automobilfabrik überlebt. „Ich bin überzeugt, dass die Marke Lada dank ihrem niedrigen Preis weiter existieren wird. Wenn die Wagen jedoch immer mehr mit Bauteilen von Renault-Nissan ausgestattet werden, wird es für AwtoWAS eng.“
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