Mehrere Generationen sind an dem ehrgeizigen Projekt „Baranowka“ beteiligt: Eltern, Kinder und Enkelkinder. Foto: Andrej Rudakow
„In den 90ern hatten wir uns eigentlich entschieden, Russland zu verlassen.“ Bauer Andrej Dawydow führt uns über seine Wiesen im Dorf Baranowka, etwa zwei Stunden südwestlich von Moskau, und erzählt, warum er sich dann doch anders entschied. „Ich kam gerade aus der Armee und hielt mich mit dem Verkauf von Büchern über Wasser. Damals handelten wir mit allem Möglichen. Gleichzeitig hielten meine Frau Marina und ich Ausschau nach einem neuen Land, das uns zur Emigration geeignet schien. Am besten gefiel uns Kanada. Wir fuhren hin, um die Lage dort zu sichten.“ Die Dawydows informierten sich auch über die kanadische Landwirtschaft. Für alle Fälle.
Hereford-Rinder in Kaluga
„Zuerst besichtigte ich eine Milchfarm, um mir Ideen zu holen. Und mir wurde klar, dass ich diese Milchmengen, die dort verarbeitet werden, niemals stemmen könnte. Die Schweinehaltung wiederum war mir zu energiein- tensiv. Sie lohnt sich erst ab einer bestimmten Anzahl von Tieren. Dann habe ich mir die Rinderzucht angeschaut: schlichte Ställe, Weiden, nur mit einem rostigen Draht drumherum, und mächtige Hereford-Rinder. Herrlich! Ich habe mir gedacht: Wenn ich zu Hause solche Rinder hätte, könnte ich davon leben und müsste nicht mehr auswandern.“
Es ist den Hereford-Rindern und der Hartnäckigkeit der Familie Dawydow
zu verdanken, dass das seit den 1960er-Jahren verlassene Dorf Baranowka seinen Platz auf der Landkarte zurückbekam. An die Kolchosbauern, die hier einst lebten und arbeiteten, erinnern nur noch mehrere abgebröckelte Mauern und eine verrostete Straßenlaterne. Und dann tauchte der pensionierte Hauptmann auf, brachte seine Frau und die Kinder mit, steckte Geld in das Land und befasste sich mit der Zucht von Hornvieh. Bald war er so erfolgreich, dass der Selbstkostenpreis seines Fleisches dreimal niedriger als bei den Nachbarn war.
Die Hereford-Rinder, heute vierhundert an der Zahl, haben sich dem Kalugaer Klima gut angepasst. Mit ihrer dicken Haut, dem dichten Fell und der Unterwolle kann ihnen der russische Frost nichts anhaben. Deshalb sind sie auch das ganze Jahr über im Freien auf offenen Weiden, nur umgeben von einem Elektrozaun. Hühner gibt es auch auf dem Hof, der Verkauf von Eiern bringt zwar keinen sensationellen Gewinn, dafür aber auch keinen Verlust. Gleich neben dem Hühnerstall und den Unterständen für die Rinder legten die Dawydows einen Weg zur Hauptstraße an, ließen eine Hochspannungsleitung bau-en, richteten eine Trafostation und eine Niedervoltleitung ein. In einem eigens dafür gebauten Stall bringen die Kühe ihre Kälber zur Welt.
Foto: Andrej Rudakow
„In diesem Jahr haben wir dort Videokameras installiert. Jetzt können wir dem Kalbungsprozess vom Sofa aus zusehen, wenn wir es denn wollen. Eine ziemlich nützliche Sache! 1998, als wir anfingen, haben wir 20 Prozent der Kälber vor allem wegen der Nachlässigkeit der Arbeiter verloren. ‚Ach, das Kalb ist verreckt‘, sagen die und winken ab. Mit den Kameras haben wir die Kühe im Blickund achten darauf, dass sich jemand um sie kümmert. Seitdem gibt es fast keine Totgeburten mehr.“
Als Städter mussten die Dawydows ihre neue Beschäftigung erst erlernen. Aber dann haben sie sich umso mehr in die Arbeit gestürzt. Sie fahren auf Schulungen, internationale Landwirtschaftskonferenzen und haben Fachzeitschriften aus Amerika abonniert.
Dawydow wundert sich: „Wa-rum machen unsere Landsleute einfach so weiter wie bisher – gerade die Bauern? Sie könnten sich doch zum Beispiel einfach mal hinsetzen und ausrechnen, was für sie von größerem Vorteil ist: ein neuer Elektrozaun, dessen Ausgaben sich nach einer Saison rentiert haben, oder ein Dutzend betrunkener Hirten. Aber es sieht so aus, als ob sich kaum jemand Gedanken macht und schon gar nicht rechnet.“
Es mangelt an Arbeitskräften
Das Dorf Baranowka besteht aus vier neuen Ziegelhäusern, die Dawydow gebaut hat. In einem wohnt er selbst zusammen mit seiner Frau, in einem anderen die Tochter mit dem Schwiegersohn und den fünf Enkeln, in einem die Arbeiter. Die Dawydows leiden wie viele Bauern aus der Region Kaluga unter dem Arbeitskräftemangel. Es ist nicht leicht, in Russland Traktorfahrer und Erntehelfer zu bekommen. Die Leute ziehen weg in die Großstädte, und die paar, die bleiben, sind nicht allzu vertrauenswürdig.
Marina bedauert, dass sich die Arbeiter auf ihrem Hof so wenig für die Umgebung interessieren. „Ich bin diejenige, die Blumen vor ihrem Haus angepflanzt hat“, sagt sie. „Doch es ist ihnen einerlei, wenn sie vertrocknen, und ich muss ihnen sogar noch Geld geben, damit sie wenigstens ab und zu mal gießen.“ Baranowka, Einwohnerzahl zehn Personen, ist wieder mit Leben erfüllt. Hier wechseln häufig die Arbeiter, und es kann sogar passieren, dass das kleine Dorf überfallen wird. Und hier arbeiten Andrej und Marina in ihren Gummistiefeln von früh bis spät.
Die von Kolchosen und Sowchosen geprägte russische Landwirtschaft brach mit dem Ende der Sowjetunion zusammen. Den Tiefpunkt erreichte sie im Jahr 1998, als nur noch halb so viel produziert wurde wie 1990. Seitdem stieg die Produktion wieder, hat jedoch immer noch nicht das Niveau von 1990 erreicht.
In den südrussischen Schwarzerdegebieten sind neben russischen auch internationale Großunternehmen tätig, darunter einige deutsche. Der Staat fördert die Landwirtschaft aktiv mit Subventionen, um den Import von Nahrungsmitteln zu reduzieren. Das Wirtschaftsministerium erwartet von 2013 bis 2016 eine durchschnittliche Steigerung der Bruttoagrarerzeugung um jährlich 3,6 Prozent. Insbesondere die Fleischerzeugung legte dank Subventionen stark zu, und auch die Prognosen für die nächsten Jahre stehen gut. In diesem Jahr wird eine Produktion von 8,5 Millionen Tonnen Schlachvieh erwartet, bis zum Jahr 2016 sollen es 9,6 Millionen Tonnen sein.
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