Nach den jüngsten Sanktionen droht der Kreml nun mit Protektionismus. Foto: Getty Images/Fotobank
Kaum ein Thema scheidet die Gemüter in Russland derzeit so sehr wie das Thema Sanktionen, insbesondere die Reaktion des Kremls auf die Strafmaßnahmen der USA, der Europäischen Union und einer Reihe weiterer westlicher Staaten. Fest steht, dass das Importverbot für die meisten Lebensmittel aus Europa und Amerika jeden Russen treffen wird, sei es direkt oder indirekt. Erbittert wird jedoch über die Vorzeichen der Effekte gestritten. Internationale Experten, wohlhabende Russen aus der Mittelschicht, Ökonomen, Gourmets und Restaurantbetreiber tummeln sich auf der Seite der Skeptiker. Lauter Applaus kommt dagegen von den Landwirten, einigen Lebensmittelherstellern, patriotischen Publizisten und Politikern sowie von vielen Millionen Russen, die den Regierungskurs unterstützen.
Wenn es die Sanktionen nicht schon gäbe, hätte man sie erfinden müssen, sagen etwa die Befürworter in Person des Duma-Abgeordneten Wjatscheslaw Tetjokin. Ihm pflichtet der Vorsitzende des Verbandes der russischen Milchproduzenten Andrej Danilenko bei. Beide sind sich sicher, dass nun der Staat dazu beitragen muss, dass die wegfallenden Importe nicht einfach durch Einfuhren aus anderen Ländern ersetzt werden dürfen. Vielmehr sollen russische Hersteller die Lücken füllen.
Die Logik dahinter ist so klar und alt wie der Handel selbst: Ausländische Konkurrenz sei schlecht und nehme den eigenen Herstellern den Absatzmarkt weg. So oder so ähnlich argumentieren konservative und patriotische Kräfte in Russland schon seit Monaten. Dabei geht es nicht nur um Landwirtschaft. Beim Thema Rüstung freute sich der verantwortliche Vize-Premier Dmitrij Rogosin bereits im Frühjahr darüber, dass Russland wegen des drohenden Waffenembargos seitens des Westens nun in die eigene Herstellung investieren muss. Sergej Glasjew, Wirtschaftsberater von Wladimir Putin, sagte auf dem diesjährigen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg, dass der Versuch seitens des Westens, Russland zu isolieren, nur einen positiven Effekt auf Russlands Wirtschaftsleistung haben werde,insbesondere dank Importsubstitutionen und einer verstärkten Finanzierung der Unternehmen im Inland.
Gut für Hersteller, schlecht für das Land
„Für die russische Landwirtschaft sind die Sanktionen sehr gute Nachrichten", sagte Sergej Gurijew, einer der bekanntesten Ökonomen Russlands und Professor an der Pariser Universität Sciences Po, kürzlich dem Radio Svoboda. Es gebe noch viele Unsicherheitsfaktoren, im Großen und Ganzen könne man jedoch auf steigende Produktion in der Landwirtschaft hoffen. Tatsächlich profitieren auch andere Branchen, beispielsweise der Verband der Rohrhersteller. Die Unternehmen dieser Branche hoffen auf zusätzliche Gewinne von bis zu 40 Millionen US-Dollar jährlich, weil die USA und die EU den Export von Stahlrohren für Russlands Ölindustrie untersagt haben. Auch der versiegende Handel zwischen Russland und der Ukraine beschert neue Aufträge für die Industrie, meint etwa Wladimir Kolytschew, Chief Economist bei VTB Capital. So seien im Juli die Stahlproduktion um sechs Prozent gestiegen und die Produktion von Eisenbahnwaggons sogar um 20 bis 30 Prozent. Beides waren wichtige Exportgüter der Ukraine.
Insgesamt zeigte die verarbeitende Industrie im Juli dieses Jahres ein überraschendes Plus von 1,5 Prozent zum Vorjahresmonat. Auch Experten der britischen Bank HSBC stellten eine deutliche Belebung in der russischen Produktion fest. Ein Grund zum Jubeln ist das allerdings noch nicht. „Als Folge der Sanktionen wird die Inflation um weitere ein bis zwei Prozentpunkte steigen", meint Ökonom Gurijew. Ihm pflichtet Natalia
Orlowa, Chefvolkswirtin der russischen Alfa-Bank, bei. Letztendlich könne die höhere Inflation dazu führen, dass die Zentralbank den Leitzins weiter anhebt. Ein Schritt, den sie im laufenden Jahr bereits mehrfach gegangen ist, um das Preisniveau einigermaßen stabil zu halten. Dies würde dringend benötigte Kredite für russische Unternehmen noch teurer machen als siejetzt mit etwa 15 Prozent Zinsen im Jahr schon sind. Aktuelle Zahlen bestätigen die Inflationsangst. Innerhalb einer Woche stiegen etwa in Moskau die Preise für Fisch, Käse und Milch um vier bis sechs Prozent.
Die überwiegende Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler auf der Welt ist sich einig, dass protektionistische Maßnahmen lediglich bestimmten wirtschaftlichen Interessensgruppen nutzen, nicht jedoch der gesamten Volkswirtschaft mitsamt den Konsumenten und den Branchen, die nicht von den Schutzmaßnahmen betroffen sind. Für viele Beobachter liegt es daher nahe, dass die Regierung in Moskaugegen wirtschaftliche Vernunft handele. Steve Forbes beispielsweise, Herausgeber des gleichnamigen Magazins, empfahl dem russischen Präsidenten Ende August in einer „Memo To Putin" die Lektüre von Adam Smith, dem Vater der modernen Wirtschaftstheorie. Russland schade nur sich selbst.
Isolation ist kein Ausweg für den Kreml
Tatsächlich seien die Gegensanktionen Moskaus eher politischer denn wirtschaftlicher Natur, schreibt Waleri Mironow, stellvertretender Leiter des Zentrums für Entwicklung an der angesehenen Moskauer Higher School of Economics, in einer Analyse. Die Maßnahme zielte eher auf die öffentliche Meinung denn auf eine Unterstützung der russischen Hersteller. „Erstens ist
in der Landwirtschaft eine schnelle Importsubstitution nicht zu erwarten, und zweitens sucht die Regierung bereits verstärkt nach neuen Lieferanten", so Mironow. Hätte der Kreml tatsächlich Importverbote zum Ankurbeln der Konjunktur verwenden wollen, läge es näher, dynamischere Branchen auszuwählen, etwa die Möbelproduktion, die Kunststoffherstellung oder den Bau von Geräten und elektronischen Komponenten. Insgesamt sei eine allmähliche Importsubstitution jedoch wenig angebracht. „Russlands Importabhängigkeit ist mit 21 Prozent des BIP kleiner als bei den meisten OSZE-Staaten. Nur die USA, Brasilien und Japan weisen einen geringeren Wert auf", erklärt Mironow.
Folgt Russland also einer neuen protektionistischen Doktrin? Glaubt man Premier Dmitri Medwedjew, präferieren die Machthaber eher gute Handelsbeziehungen denn einen Handelskrieg. „Die Sanktionen sind eine erzwungene Maßnahme", sagte Medwedjew Mitte August in Moskau. Er hoffe jedenfalls, dass sie nicht lange anhalten werden. Zu Beginn der Sanktionen bezeichnete er den Handel mit Europa als eine „für beide Seiten gewinnbringende Kooperation". Mironow jedenfalls glaubt nicht an einen lange gehegten Plan. „Die Maßnahme ist reaktiv und daher nicht soweit vorbereitet, um mit Sicherheit einen positiven Effekt zu erzielen." Dafür spricht auch, dass das selbst auferlegte Embargo bereits zwei Wochen nach Einführung um einige Positionen wie Lebendfische für die Fischzucht oder laktosefreie Milch gelockert wurde.
Bis vor wenigen Monaten gehörte Moskau noch zu den Verfechtern des Freihandels. Nicht umsonst bemühte sich das Land jahrelang um eine Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation. 2012, kurz vor dem Beitritt
zur WTO, richteten 81 Industrielle einen Appell an Putin, er möge den Schritt nochmals überdenken. Dazu kam es jedoch nicht. Seitdem haben Landwirte und Industrielle immer wiederversucht, den Kreml zu mehr Protektionismus zu bewegen – vergeblich. So wurde eine geplante Umweltabgabe auf importierte Fahrzeuge schließlich auch auf heimische Hersteller ausgeweitet.
In den vergangenen Jahren hat sich die Kooperation mit westlichen Unternehmen für Russland mehr als ausgezahlt. Nur ein Beispiel: Etwa ein Drittel aller Firmen mit Ackerflächen mit mindestens 100.000 Hektar Land gehören ausländischen Agrarunternehmen. In Branchen wie dem Automobilbau haben ausländische Hersteller in Russland längst die Oberhand gewonnen.
„Alle Experten und Unternehmen gehen davon aus, dass Autarkie für Staaten absolut uneffektiv ist", meint Experte Mironow. Es sei daher zu wünschen, dass Russland bei den nächsten Schritten im Spiel mit dem Westen nicht nur die Politik, sondern auch die Wirtschaft im Auge behält.
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