Foto: Alexej Malgawko/RIA Novosti
Rückt Russland wieder näher an Europa? Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat die Idee einer Freihandelszone zwischen der Europäischen Union und der Eurasischen Wirtschaftsunion, bestehend aus Russland, Kasachstan, Belarus und Armenien, wieder ins Spiel gebracht. Neu ist die Idee nicht. Lawrow griff damit einen Vorschlag des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf, der schon vor vier Jahren „die Gestaltung einer harmonischen Wirtschaftsgemeinschaft von Lissabon bis Wladiwostok" empfahl. In einem Gastbeitrag für die „Süddeutsche Zeitung" zum „Führungstreffen Wirtschaft der Süddeutschen Zeitung" erklärte Putin im Jahr 2010: „In Zukunft kämen eventuell auch eine Freihandelszone, gar noch fortgeschrittenere wirtschaftliche Integrationsformen in Frage."
Etwa 60 Prozent des russischen Außenhandels entfallen auf die EU. In einer Freihandelszone können die Mitgliedsstaaten Waren uneingeschränkt ein- oder ausführen. Handelshemmnisse wie Zölle oder sonstige Abgaben oder Einfuhrbeschränkungen entfallen. Im Januar 2014 kam das Thema beim Russland-EU-Gipfel in bilateralen Gesprächen erneut auf die Tagesordnung. Damals war das Verhältnis deutlich unbelasteter, von einer Eingliederung der Krim in die Russische Föderation oder gar gegenseitigen Sanktionen war noch nicht die Rede. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso zeigte sich damals den russischen Vorschlägen gegenüber aufgeschlossen, unter der Voraussetzung, dass Russland das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU akzeptieren werde.
Nun also Sergej Lawrow. Sergej Chestanow, Geschäftsführer der Unternehmensgruppe Alor, erklärt den neuerlichen russischen Vorstoß in Richtung Freihandelszone mit der EU: „Lawrow entschärft damit den Konflikt. Russland könnte mit dieser Erklärung beabsichtigen, den Abbau von Sanktionen herbeizuführen." Zudem wären die USA bei den Verhandlungen zu einem Freihandelsabkommen zwischen Russland und der EU außen vor, darauf weist Dmitri Lukaschow, Analyst bei IFC Markets, hin. „Russland zeigt, dass es weiter an wirtschaftlichen Beziehungen mit der EU interessiert ist", sagt er. Und aus russischer Sicht seien für den Abbau von Handelshemmnissen die gegenseitigen Sanktionen ein Fehler, so Lukaschow.
Die EU profitiert mehr als Russland
Russlands Wirtschaft könnte von einer Freihandelszone mit der EU profitieren, glaubt Tamara Kassjanowa, erste Vizepräsidentin des Russischen Clubs der Finanzdirektoren. Die Wettbewerbsfähigkeit russischer Waren und Dienstleistungen im Ausland könnte gesteigert
werden. Alor-Chef Chestanow gibt zu bedenken, dass eine Freihandelszone und damit ausländische Konkurrenz sich nachteilig für russische Unternehmen, die auf den Binnenmarkt orientiert sind, auswirken könnte. Chestanow sorgt sich vor allem um Russlands Agrarsektor: „Die russische Landwirtschaft müsste hart kämpfen, um der Konkurrenz durch europäische Hersteller standzuhalten." Ohne staatliche Subventionen hätte sie keine Chance zu überleben, so Chestanow.
Die EU hingegen würde von einem Freihandelsabkommen mit Russland stärker profitieren. „Die Volkswirtschaften vieler europäischer Länder haben das Vorkrisenniveau noch lange nicht erreicht", bemerkt Tamara Kassjanowa und meint: „Ein Weg aus dieser Situation könnte gerade darin bestehen, den Umsatz der Unternehmen durch eine verstärkte Präsenz auf dem russischen Markt zu erhöhen." Dmitri Lukaschow stimmt ihr zu, dass ein Freihandelsabkommen eher im Interesse europäischer denn russischer Unternehmen sei. Eine Öffnung der Grenzen würde umgehend alle Bestrebungen einer Importsubstitution in Russland stoppen. 85 Prozent der
russischen Exporte machen mineralische Rohstoffe, einschließlich Kohlenwasserstoffe, aus, die auf dem Weltmarkt auch ohne die Regelwerke einer WTO oder eines Freihandelsabkommen sehr gefragt seien. Die Europäische Union dagegen werde fertige Produkte liefern, die mit asiatischen und amerikanischen Waren konkurrieren, meint Lukaschow.
„In der Vorkrisenzeit wäre eine stärkere Integration mit der EU für Russland wirtschaftlich viel interessanter gewesen", ist Sergej Chestanow überzeugt. „Doch die russischen Unternehmen der Metallurgie und der Petrochemie stießen damals auf Exporthemmnisse im Handel mit der EU, unter anderem auf Zölle. Mittlerweile sind die Preise für Erzeugnisse der Metallurgie auf Talfahrt, eine wirtschaftliche Integration mit der EU ist daher bei Weitem nicht mehr so sinnvoll", fasst er zusammen.
Nach Materialen von Wsgljad und Kommersant.
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