Alexander Afanasjew: "Für uns war die Deutsche Börse eines der Vorbilder bei der Prozessorganisation und beim Aufbau der Infrastruktur." Foto: Getty Images / Fotobank
Der russische Aktienmarkt galt lange als spekulativ. Sehen Sie das auch so?
Unser Markt war insbesondere am Anfang seiner Entwicklung spekulativ. Wie jeder neue Markt zieht er anfangs die besonders wagemutigen Investoren an, die bereit sind, größere Risiken einzugehen. Diese kann man unter Umständen Spekulanten nennen.
Unser Kapitalmarkt ist sehr jung, weil unsere Marktwirtschaft kaum älter als 20 Jahre ist. Eine ernsthafte gesetzliche Grundlage wurde erst Anfang der 2000er-Jahre ausgearbeitet. In dieser Zeit entwickelte sich auch das Interesse vieler internationaler Investoren. Heute gibt es in Moskau computergestützten Handel, langfristige Investoren aus dem In- und Ausland, Hedge Fonds sowie Privatanleger.
Wegen der Ukraine-Krise haben sich die Handelsvolumina in Moskau erhöht. Womit hängt das zusammen? Geht es hier vor allem um
Alexander Afanasjew (52) studierte Außenwirtschaft am Moskauer Finanzinstitut und arbeitete seit 1991 bei verschiedenen Banken. Baute zusammen mit der Zentralbank Russlands die erste Investmentbank mit ausländischer Beteiligung auf. Arbeitete später bei kommerziellen Banken und wechselte 2005 an die Moskauer Devisenbörse. Seit 2012 leitet er den Vorstand der Moskauer Börse, nachdem er bereits 2010 zum stellvertretenden Chef des Vorstandes aufgestiegen war.
spekulative Geschäfte?
Zunächst einmal ist es wichtig hervorzuheben, dass in Moskau viele verschiedene Wertpapiere gehandelt werden, angefangen bei Aktien und Derivaten über Unternehmens- und Staatsanleihen, Fremdwährung (insbesondere die Währungspaare Rubel-Dollar und Rubel-Euro) und auch Rückkaufvereinbarungen für Wertpapiere. Der sinkende Preis für Öl, das einen beträchtlichen Teil unserer Exporte ausmacht, führte zu einem Kursverfall des Rubels um fast 40 Prozent im laufenden Jahr, was seinerseits zu einer größeren Volatilität an der Börse und höheren Handelsumsätzen geführt hat.
Die Vielfalt der gehandelten Aktiva an der Moskauer Börse erlaubt uns, positive Geschäftszahlen unabhängig vom Wirtschaftszyklus zu erreichen. Insgesamt verzeichnen wir höhere Einnahmen aus dem Handel mit Währungen, Aktien, Derivaten und Geldmarkt-Produkten. Die ersten neun Monate 2014 waren die beste Zeit in unserer Geschichte: Der Gewinn ist um 23 Prozent gestiegen.
Die Moskauer Börse wird oft auch als eine der fortschrittlichsten in Europa bezeichnet. Wie haben Sie das erreicht?
Russische Aktiva waren schon seit Langem interessant für ausländische Anleger, doch die Infrastruktur ließ zu wünschen übrig und hinkte hinter der Qualität der eigentlichen Anlagen hinterher. Um diesen Abstand zu verringern, haben wir unter anderem die Erfahrungen aus dem deutschen Aktienhandel übernommen, etwa beim Risikomanagement. Wir bemühen uns darum, das Beste aus der ganzen Welt herauszupicken. Das ist der Vorteil einer jungen Börse.
Für uns war die Deutsche Börse eines der Vorbilder bei der Prozessorganisation und beim Aufbau der Infrastruktur. In den vergangenen beiden Jahren konnten wir eine Reihe von Reformen umsetzen. Zunächst wurde in Russland die Institution eines Zentralverwahrers eingeführt, um die Rechte von Investoren zu schützen und gegebenenfalls die Eigentümerrechte zu bestätigen.
Zum anderen haben wir eines der am höchsten kapitalisierten Clearing-Zentren geschaffen, das als zentraler Kontrahent auftritt. Darüber hinaus haben wir die Clearingsysteme, Clearstream und Euroclear, auf dem Markt für russische Staatsanleihen zugelassen, später auch für Unternehmensanleihen und auch Aktien russischer Gesellschaften. Wir haben die direkte Teilnahme am Handel für sechs globale Banken ermöglicht. Dieser Schritt macht russische Wertpapiere zugänglicher für internationale Investoren.
Helfen diese Maßnahmen, langfristige Anleger auf den russischen Markt zu locken oder nicht? Was sind die Gründe dafür?
Der russische Markt, wie jeder andere auch, ist an zwei Arten von Investoren interessiert: den inländischen und den internationalen. Sie können nicht unabhängig voneinander existieren, weil Volkswirtschaften, die sich in ihrer Entwicklung befinden, immer auf der Seite der Kapitalnehmer sind.
46 %
des Handelsumsatzes machen ausländische Investoren aus. Dieser Wert lag im vergangenen Jahr bei 40.
125 000 000
Euro Gewinn verbuchte die Moskauer Börse im dritten Quartal dieses Jahres.
Wir haben in den vergangenen zwei Jahren zahlreiche Reformen umgesetzt, die die Marktinfrastruktur an internationale Standards angepasst haben. Jetzt können in Russland jedwede Transaktionen realisiert werden, die den Ansprüchen der konservativsten Investoren genügen.
Unsere zweite Aufgabe ist die Entwicklung auf dem Gebiet der inländischen Investoren. Heute sind nicht mehr als sechs Prozent der Ersparnisse von Privatpersonen in Wertpapieren angelegt.
Wir wollen uns ja gar nicht mit dem US-amerikanischen Markt vergleichen, wo dieser Wert über 55 Prozent liegt. Aber selbst in Deutschland mit seinen größtenteils konservativen Anlegern liegt der Anteil der Investitionen in Aktien bei 25 Prozent, und in einigen Entwicklungsmärkten, etwa in Polen oder Süd-Korea, erreicht er 30 Prozent. Wir hoffen, dass diese Zahl in nächster Zeit auch in Russland die Marke von 20 bis 25 Prozent erreicht.
Wie realistisch ist es, dass die Anleger in ihrer Masse das Geld von Sparkonten auf den Markt für Wertpapiere verlagern? In den letzten Monaten war immer häufiger die Rede davon, dass dies ein neuer Trend werden müsse.
Die heutigen Ersparnisse von Russen sind entweder auf Sparkonten oder in Immobilien angelegt. Wir haben uns sehr aktiv daran beteiligt, dass neue Steuergesetze die Wertpapieranlagen begünstigen. So bekommen Investoren Steuervergünstigungen für Einkommen aus Finanzgeschäften und Anlagen in Wertpapieren mit einer Dauer von mehr als drei Jahren. Wir hoffen, dass diese Schwelle künftig bis auf ein Jahr gesenkt wird. Außerdem wird es ab 2015 individuelle Investitionskonten geben, deren Eigentümer Steuervergünstigungen für Investitionssummen bis zu 7.000 Euro bekommen.
Das ist viel höher als etwa in Kanada und Südafrika, die einen ähnlichen Ansatz verfolgen, um Anleger zu fördern, und etwas geringer als in Großbritannien und den USA.
Wie stark kann der Anteil von Privatanlegern auf dem Kapitalmarkt zunehmen?
Heute hat die russische Bevölkerung 17,5 Billionen Rubel auf Bankkonten und in Bar angehäuft (entspricht etwa 310 Mrd. Euro). Wenn wenigstens fünf bis sechs Prozent dieser Mittel an der Börse investiert werden, wären das etwa 17 Milliarden Euro. Das fällt spürbar ins Gewicht, insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Gesamtvolumen von Investitionen der Privatanleger an der Börseüber 40 Milliarden Euro beträgt.
Wie hat sich die Anzahl der ausländischen Investoren wegen der politischen Situation verändert?
Sie werden erstaunt sein, aber wir beobachten keine Verringerung des Anteils ausländischer Investoren bei den Handelsvolumina, sondern ganz im Gegenteil. 2013 lag der Anteil der ausländischen Anleger auf dem russischen Aktienmarkt bei 40 Prozent des Handelumsatzes. Heute beträgt er 46 Prozent. Bei den Derivaten wuchs der Anteil von 38 auf 44 Prozent, auf dem Währungsmarkt von zehn auf 14 Prozent.
Zugegeben, ein Teil der in unserer Statistk auftauchenden ausländischen Investoren ist auf Zypern registriert, während große russische Vermögen oftmals über zypriotische Offshore-Konten investiert werden. Doch längst nicht alle Konten auf Zypern sind russischen Ursprungs, und ihre Eigentümer sind bei Weitem nicht immer Russen. Die Investitionstätigkeit dieser Anleger ist allein schon geografisch breit gestreut. Russische Aktiva sind derzeit an der Börse sehr günstig zu haben, und dies führt automatisch zu einem Interesse der Anleger.
Vor Kurzem hat die Moskauer Börse angekündigt, den Handel mit den Aktien von AFK Sistema im Zusammenhang zu untersuchen. Dem Chef des Unternehmens, Wladimir Jewtuschenkow, wird Geldwäsche vorgeworfen. Wie wichtig ist insgesamt das Problem des Insiderhandels derzeit?
Auch in Russland existieren Gesetze, die Insiderhandel und Kursmanipulationen eindämmen sollen. Ich würde nicht unbedingt das Beispiel AFK Sistema besonders hervorheben. Jede Woche kommt es zu Dutzenden Fällen, wenn eine Kursbewegung Auffälligkeiten zeigt. Diese Fälle werden untersucht und die Informationen an die Zentralbank weitergeleitet, die sich tiefergehend damit befasst. Bei Weitem nicht jeder Verdacht erhärtet sich bei näherer Prüfung.
2014 haben einige Firmen wie Yandex den Handel ihrer Aktien nach Russland verlegt. Wie ist es gelungen, diese Firmen anzulocken?
310 000 000 000
Euro schlummern auf den Konten von Russlands Bürgern. Die bevorzugten Anlagen sind noch immer Immobilien und Sparkonten.
50 000 000 000
Euro haben russische Investoren in den Moskauer Aktienmarkt investiert. Nur sechs Prozent aller Ersparnisse sind in Wertpapieren angelegt.
Wir haben ein Programm, um neue Emittenten zu akquirieren. Dabei haben wir vier Gruppen von Unternehmen im Sinn, die wir ansprechen wollen. Darunter befinden sich zunächst russische Privatunternehmen, die Kapital am Aktienmarkt aufnehmen wollen. Zweitens geht es um staatliche Unternehmen, die privatisiert werden, wie etwa beim Börsengang des weltgrößten Diamantenherstellers Alrosa im vergangenen Jahr, der etwa 1,3 Milliarden US-Dollar einbrachte. Drittens sind es Firmen, die zwar im Ausland registriert, faktisch jedoch russische Unternehmen sind. Zu dieser Kategorie gehören etwa die Internetfirma Yandex mit juristischem Sitz in Holland, der Handelskonzern und Großmarktbetreiber Lenta oder das Bergbauunternehmen Polymetall. Diese kommen an die Moskauer Börse, weil sie an russischen Investoren und an der Möglichkeit, in länderspezifische Indizes aufgenommen zu werden, interessiert sind.
Schließlich gibt es viertens die innovativen Venture-Unternehmen, für die an der Moskauer Börse extra die Abteilung „Markt für Innovationen und Investitionen“ geschaffen wurde.
Ist die Rede von einer russischen NASDAQ?
Wir können keine Start-ups in unseren Index aufnehmen, gleichzeitig gibt es viele Investoren, die an solchen Untenehmen interessiert sind. Dieser Markt ist natürlich noch nicht besonders groß und weit von der NASDAQ entfernt, aber wir konnten dennoch eine bestimmte Vereinigung von Venture-Kapitalisten, Investitionsfonds und Brokern schaffen, die sich für diesen Markt interessieren.
In den letzten Jahren ist die Moskauer Börse selbst an die Börse gegangen. Derzeit befinden sich 50 Prozent der Aktien im Streubesitz von kleinen Aktionären. Was bedeutet das für das tägliche Geschäft?
Wir haben unseren Börsengang nicht wegen Kapitalmangels in Angriff genommen, sondern um am eigenen Beispiel zu zeigen, dass es tatsächlich eine Nachfrage nach Papieren von russischen Unternehmen mit guten Geschäftszahlen gibt. Für ein russisches Unternehmen ist der 50-prozentige Free-Float-Anteil in der Tat sehr hoch. Wir haben nicht den einen großen Aktionär, sondern eine sehr breit gestreute Aktionärsbasis. Ein Börsengang und die öffentliche Emission von Papieren ändert natürlich das ganze Leben der Firma. Damit verbunden sind nicht nur völlig neue Anforderungen an die Qualität der Unternehmensleitung und an ein höheres Niveau von Transparenz und Offenheit, sondern auch neue Herangehensweisen bei der Motivation des leitenden Personals und der Mitarbeiter des Unternehmens.
In diesem Jahr wurde Alexej Kudrin, ehemaliger Finanzminister Russlands, zum Vorsitzenden des Aufsichtsrates der Moskauer Börse gewählt. Was kann der Ex-Minister einbringen?
Kudrin verfügt über eine herausragende Expertise im Bereich der Makroökonomie und Finanzen. Man musste ihn nicht in alle technischen Feinheiten einweihen, weil er alles schon wusste. Herr Kudrin hat darüber hinaus beste Beziehungen, die nützlich sein können für die Entwicklung unseres Geschäfts.
Für uns ist es wichtig, dass er als unabhängiger Experte mit der größten Autorität in Russland gilt. Wir veranstalteten kürzlich eine Konferenz in London. Als bekannt wurde, dass auch Kudrin kommt, haben sich in drei Tagen so viele Interessenten angemeldet, dass der Saal viel zu klein war.
Foto: Sergey Kusnetsow / RIA Novosti
Die Moskauer Börse ist die größte Börsenholding in Osteuropa und wurde aus der Fusion von zwei Handelsplätzen in Moskau, der Währungsbörse MICEX und dem Aktienindex RTS, gegründet. Beide starteten in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre, einer Zeit des Umbruchs und der Reformen. Gemessen am Handelsvolumen gehört die Moskauer Börse zu den 20 größten Handelsplätzen der Welt.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schossen in den 1990er-Jahren die Handelsplätze wie Pilze aus dem Boden. Bis zum Staatsbankrott im Jahre 1998 wurden bereits über 1.800 Handelsplätze gezählt. Das vergangene Jahrzehnt war von einer Konsolidierung der Branche gekennzeichnet, bis hin zur Fusion von zwei der ältesten Börsenplätze Russlands. Derzeit beträgt das jährliche Handelsvolumen an der Moskauer Börse mehr als sieben Billionen Euro.
Im vergangenen Jahr unternahm der Börsenbetreiber einen Börsengang, infolge dessen die Marktkapitalisierung mehr als zwei Milliarden Euro erreichte, während der Börsengang mit einer Milliarde Euro etwa um das Doppelte überzeichnet wurde.
Zu den größten Aktionären der Börse gehören neben der Zentralbank der Russischen Föderation mit über 13 Prozent auch die staatliche Sberbank und die Vneshekonombank (VEB) mit knapp zehn beziehungsweise acht Prozent der Unternehmensanteile.
In den ersten neun Monaten konnte die Moskauer Börse zudem den Wert für ihr Ebitda erheblich steigern – um etwa 18 Prozent. Gleichzeitig stieg die Rentabilität des Unternehmens auf einen Spitzenwert von knapp 71 Prozent.
Die Gesamtkapitalisierung der russischen Unternehmen, die an der Moskauer Börse gehandelt werden, beträgt derzeit weniger als 500 Milliarden US-Dollar. Das sind über 250 Milliarden US-Dollar weniger im Vergleich zum Frühjahr, was nicht zuletzt dem schwachen Rubel geschuldet ist.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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