Einst wurde Käse massenweise aus Europa importiert. Nun sind russische Hersteller fast ohne Konkurrenz. Foto: Stalislaw Krasilnikow/TASS
Die Chinesen kamen nicht nur, um die russischen Atomraketen zu bestaunen, die am 9. Mai über den Roten Platz rollten. Während die ganze Welt vor einigen Wochen Putins Gästeliste zur Siegesparade diskutierte, wurden im Hintergrund Geschäfte gemacht. So unterschrieb am 8. Mai die China Development Bank (CDB) einen Vertrag, welcher der größten Bank Russlands, der staatlichen Sberbank, eine Kreditlinie von 869 Millionen Euro einräumte. Die Mittel sind für die Modernisierung des größten russischen Zementproduzenten Ewrozement vorgesehen. Zudem erhielt die Wneschtorgbank, die russische Außenhandelsbank, von der China Exim-Bank 565 Millionen Euro als Darlehen für Investitionen in die Spezialstahl-Herstellung.
Seit Russland von den westlichen Finanzmärkten beinahe vollständig ausgeschlossen ist, muss sich die Wirtschaft des Landes nach neuen Geldquellen umsehen. Schließlich ist die mangelhafte Finanzierung nach Meinung von Experten die größte Hürde für die Weiterentwicklung der Industrie. So sank nach Angaben des Gaidar-Instituts das Volumen der an kommerzielle Kreditnehmer vergebenen Darlehen im Zeitraum von Januar bis Februar 2015 um nahezu ein Viertel von 90,8 Milliarden Euro im Vergleichszeitraum des Vorjahres auf 69,8 Milliarden. Am stärksten ließ die Kreditaktivität in der Bauwirtschaft nach (um 63 Prozent), um 40 Prozent ging die Kreditaufnahme im Maschinenbau und der Metallurgie zurück. Gleichzeitig hat Russlands Führung die Importsubstitution als neue wirtschaftliche Strategie ausgerufen. Ohne mehr Kredite wird die Produktion im Inland aber kaum anzukurbeln sein.
„Eine Importsubstitution bedeutet immer einen recht langwierigen Prozess. Der Bau neuer Produktionskapazitäten und das Erreichen der vollen Leistungsfähigkeit dauert normalerweise mehrere Jahre, in der Landwirtschaft bis zu drei und im Maschinenbau bis zu fünf Jahren", erklärt Timur Nigmatullin, Analyst der Investmentholding Finam.
Ein weiteres Problem ist der Mangel an Fachkräften. „Die Umsetzung der Importsubstitutionen erfordert eine Anwerbung zusätzlicher Arbeitnehmer, die in der Lage sind, den durch den Wegfall der Importwaren entstandenen erhöhten Bedarf an Produkten zu decken", ergänzt Alexej Koslow, Senior-Analyst von UFS IC.
Russlands Ministerium für Industrie und Handel verfolgt einen eigenen Plan, wie die neue Strategie der Importsubstitution umgesetzt werden soll. Dazu sind laut Ministerium Investitionen in Höhe von etwa 28 Milliarden Euro in die verarbeitende Industrie notwendig, wovon knapp 24 Milliarden Euro private Investoren leisten sollen.
Zuvor hatte das Ministerium bereits 18 Projekte in der Ölindustrie mit staatlichen Fördermitteln ausgestattet. So sind beispielsweise mehr als vier Milliarden Euro in den Bau von Maschinen für die Ölindustrie geflossen. Bis 2020 soll dadurch die Importabhängigkeit in diesem Bereich von 60 auf 43 Prozent sinken.
Die neue Strategie der Importsubstitution wurde zunächst in der Landwirtschaft ausprobiert. Vergangenen August führte Russland ein Importverbot für Lebensmittel aus der Europäischen Union, den USA und einer Reihe weiterer Länder ein. Die Nachfrage nach heimischen Produkten stieg. Zusätzlich verschaffe der schwache Rubel den heimischen Herstellern einen Konkurrenzvorteil, meint Timur Nigmatullin. Das gelte besonders für die Landwirtschaft und die Produktion von Konsumgütern. Dem will die Regierung nachhelfen.
Um die Importsubstitutionen zu stimulieren, wurde in Russland der Föderale Industrie-Entwicklungfonds geschaffen, in den der Staat bereits 350 Millionen Euro zur zweckgebundenen Finanzierung unter Vorzugsbedingungen für konkrete Projekte eingezahlt hat.
Die Programme dieses Fonds sehen für jedes Projekt ein Kreditvolumen von bis zu 700 Millionen Rubel (12,3 Millionen Euro) mit einer Laufzeit von bis zu sieben Jahren bei einem Zinssatz von lediglich fünf Prozent pro Jahr vor.
Verglichen mit kommerziellen Banken sind diese Bedingungen ein Traum. Zwar hat die Zentralbank den Leitzins Anfang Mai von 14 Prozent wieder auf 12,5 Prozent gesenkt. Für Unternehmen ist die Kreditaufnahme aber immer noch ein teures Vergnügen. Nach Angaben des Föderalen Industrie-Entwicklungfonds für Anfang Mai 2015 wurden bereits 800 Anträge mit einem Gesamtvolumen von 280 Milliarden Rubel (4,9 Milliarden Euro) entgegengenommen, was das Volumen des Fonds um ein Vielfaches übersteigt. Inzwischen hat der Fonds alle Projekte mit höchster Priorität finanziert, einschließlich der Fertigung von Güterwaggons, Agrarmaschinen für die Getreideverarbeitung und von Stanzen zur Herstellung von Aluminiumteilen für die Automobilindustrie.
Für die Gesamtwirtschaft dürften sich solche Investitionen jedoch als Tropfen auf den heißen Stein erweisen. Anfang 2015 war das Wachstum der russischen Wirtschaft erstmals seit fünf Jahren rückläufig. Nach einem Wirtschaftswachstum von 0,6 Prozent zum Jahresende 2014 fiel das BIP im März 2015 um 0,4 Prozent, was hochgerechnet zum Jahresende 2015 einen Wachstumsrückgang von 2,9 Prozent bedeuten würde.
Lange galt die verarbeitende Industrie als Stabilitätspfeiler für das Wachstum, doch angesichts der gesunkenen Produktion, etwa im Bereich der Automobilfertigung, sank die Produktion im April um 4,5 Prozent zum Vorjahresmonat. Auch der Einzelhandelsumsatz schrumpfte im ersten Quartal nach offiziellen Angaben um sechs Prozent.
Es sind aber nicht nur konjunkturelle Probleme, die Russlands Industrie plagen, sondern auch strukturelle. So nahmen die Investitionen in Russland von Ende der Neunzigerjahre bis 2013 aufgrund der niedrigen Arbeitsproduktivität langsamer zu als in anderen Volkswirtschaften der Welt.
Russland müsse den Rahmen für effizientere Produktion schaffen, fordert Jewgenij Jasin, wissenschaftlicher Leiter der Higher School of Economics in Moskau. Ohne Investitionen in die Industrie sei dies aber unmöglich.
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