Carl Siemens hatte maßgeblichen Anteil am Erfolg der russischen Niederlassung von Siemens & Halske und verbrachte viele Jahre als Leiter der Vertretung in Russland. Foto: Pressebild
Der Fabrikschlot strahlt trotz seines Alters unübersehbare Eleganz aus. Der Giebel der Werkshalle aus dunkel angelaufenen Backsteinen ist liebevoll mit kleinen Zinnen verziert. Lediglich zwei Klimaanlagen an der Mauer verraten, dass der Industriebau aus dem 19. Jahrhundert im hier und jetzt steht. Das denkmalgeschützte Gebäude in dem grauen Industriegebiet im Westen Sankt Petersburgs kann es nicht wirklich mit den Sehenswürdigkeiten der alten Zarenstadt aufnehmen. Nur selten verirren sich Touristen hierher.
Dabei wurde genau hier ein gutes Stück der russisch-deutschen Industriegeschichte geschrieben. Es war Carl Siemens, der das Grundstück in der Newa-Mündung 1853 erwarb und auf dem später die Kabelfabrik erbaut wurde. Zusammen mit seinem Bruder Werner war er gerade dabei, in Russland einen riesigen Markt zu erschließen. Zwei Jahre zuvor hatte die kleine Firma Siemens & Halske einen Großauftrag über 75 Telegrafen aus Russland erhalten. In der deutschen Heimat liefen die Geschäfte eher stockend.
Carl Siemens. Foto: Ulstein Bild
1852 reiste Werner von Siemens auf Einladung der russischen Regierung nach Sankt Petersburg und knüpfte dort Kontakte zu Graf Kleinmichel, der russischer Transportminister war. Der Geschäftsmann aus Deutschland hatte Hightech im Angebot, unter anderem Pläne für die weltweit erste Telegrafenlinie am Meeresgrund, die 1853 zwischen Petersburg und der Seefestung Kronstadt realisiert wurde.
Es waren jedoch nicht nur technisches Know-how und persönliche Kontakte, die Siemens & Halske zum Erfolg verhalfen. Just hatte sich Russland mit Großbritannien überworfen – somit war die wichtigste Konkurrenz der Deutschen ausgeschaltet. Zudem offenbarte sich nach Ausbruch des Krimkriegs 1853 enormer Nachholfbedarf in der Infrastruktur. Siemens & Halske brachte die Aufträge. Bereits im gleichen Jahr übertraf das Volumen des Russland-Geschäfts die Umsätze der Firma in Deutschland um ein Vielfaches.
Mit 24 Jahren übernahm Carl Siemens das Unternehmen und gründete in einem Wohnhaus auf der Wasiljewskij-Insel eine eigene Werkstatt in Sankt Petersburg, die ab 1855 als Zentrale der russischen Zweigstelle fungierte. Viele Jahre später wurde daraus das Kositzky-Werk, eine Fabrik für Radioausrüstung. In der DDR erlangten seinerzeit die Raduga-Fernseher aus eben jenem Werk große Bekanntheit, allerdings auch wegen ihrer technischen Anfälligkeit.
Mitte des 19. Jahrhunderts musste sich Siemens jedoch wieder Sorgen um das Geschäft machen, denn die Staatskasse war nach der Niederlage im Krimkrieg leer und neue Aufträge blieben aus. Die Siemens-Brüder versuchten ihr Glück zwar mit anderen Investitionen, etwa in eine Kupfermine im Kaukasus, konzentrierten sich jedoch fortan auf ihre Niederlassung in London, wohin der jüngere Carl seinem Bruder Werner 1867 folgte.
Kupfermine im Kaukasus, die von Siemens & Halske als Nebengeschäft betrieben wurde. Foto: Pressebild
Neuen Schwung bekam das Geschäft erst Anfang der 1880er-Jahre, als Carl sich nicht mehr mit der Junior-Rolle zufriedengeben wollte und nach Russland zurückkehrte. Zuvor hatte sich Siemens einen Auftrag zum Bau einer Kabelverbindung zwischen Odessa und Sewastopol sichern können. Eigens dafür wurde das Kabelwerk in der Newa-Mündung errichtet, das bis heute an den Erfolg des Unternehmens erinnert.
Es folgten Aufträge zur Straßenbeleuchtung in Sankt Petersburg und Moskau. 1897 baute Siemens das heute älteste Kraftwerk Moskaus direkt gegenüber dem Kreml am Ufer der Moskwa. Die Mitarbeiterzahl in Russland stieg auf über 4 000. Allein zwischen 1908 und 1910 kletterte der Umsatz von 6,8 auf 9,1 Millionen Rubel. 1912 errichtete Siemens die letzte Fabrik in Sankt Petersburg, in der Generatoren und Transformatoren hergestellt wurden. Mit dem Ausbruch des Krieges 1914 endete die russische Siemens-Geschichte abrupt und mündete in einer Enteignung der Betriebe.
Doch die Verbindung nach Russland brach nie ab. Nach den Wirren der Oktoberrevolution stieg Leonid Krassin zum Wirtschaftsminister des neuen Russlands auf. Krassin war aber nicht nur Revolutionär, sondern auch Geschäftsmann. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte er die Petersburger Niederlassung von Siemens geleitet und so kam es, dass das deutsche Unternehmen wieder ins Geschäft kam. So beteiligte es sich in den 1920er-Jahren an der Planung der Moskauer U-Bahn und am damals größten Wasserkraftwerk Dneproges.
Eine eigene Vertretung eröffnete Siemens jedoch erst 1971 und eine eigene Niederlassung erst nach der Öffnung der Sowjetunion weitere 20 Jahre später. Der Technologiekonzern, der heute wieder mehr als 3 000 Mitarbeiter in Russland und den GUS-Ländern beschäftigt, setzte im vergangenen Jahr etwa zwei Milliarden Euro um.
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