Das reduzierte Genie: Wer war Iwan Pawlow?

Wissen und Technik
JOSH NADEAU
Iwan Petrowitsch Pawlow ist zweifelsohne einer der berühmtesten russischen Wissenschaftler. Dennoch denken die meisten Menschen an Hunde, wenn sie seinen Namen hören und wissen nichts über die Persönlichkeit Pawlow und seine weiteren Leistungen.

Die Bewohner von Koltuschi, einer Stadt keine 20 Kilometer von Sankt Petersburg entfernt, wissen nicht, wer dort die Bäume im beliebten Stadtpark gepflanzt hat, erfahre ich. Ich besuche die Stadt an einem Samstag. Viele sind mit Familie und Freunden unterwegs. Meine Stadtführerin Irina Aktuganowa fährt fort, dass auch weitgehend unbekannt sei, dass die Holzbauten auf dem Gelände ein Unesco-Erbe und ein Denkmal für einen der berühmtesten russischen Wissenschaftler und Nobelpreisträger, Iwan Petrowitsch Pawlow, sind. 

Ein Mann im Schatten seiner Hunde 

Im Ausland ist Iwan Pawlow vor allem wegen seiner Experimente mit Hunden bekannt, weniger als ein Förderer von Grünanlagen und Stadtgründer. Es ist wahrscheinlich nur wenig Persönliches über den Menschen Pawlow bekannt. Seltsam, wenn man bedenkt, dass sein Name in Lehrbüchern in aller Welt steht.

Kaum jemand weiß von dem Teich, in dem der alternde Pawlow jeden Morgen ein paar Runden geschwommen ist, oder von der Banja, in der er mit seinen Gästen schwitzte, oder von seinem geliebten Fahrrad, ein Modell, das er vor der Revolution in der Schweiz erworben hatte. Wissen Sie, wie er die Revolution erlebt hat? 

Bevor ich nach Koltuschi kam, wusste auch ich nicht, dass die Hände, die den weltbekannten Pawlowschen Hund gefüttert haben, auch ganze Apfelplantagen gepflanzt haben oder dass auf den Bäumen und den Büsten solcher Berühmtheiten wie Descartes, Mendel oder Setschenow Schimpansen herumkletterten.

Irina Aktuganowa, die Kuratorin einer neuen Dauerausstellung für Kunst und Wissenschaft im Keller von Pawlows historischem Labor, erklärt, dass Pawlow aus dem einsamen Weiler, der einst Teil der finnischen Diaspora war, die erste Wissenschaftsstadt des Landes gemacht hat. 

Vom Spätzünder zum Nobelpreisträger 

Pawlow wurde 1849 im damaligen russischen Reich geboren und war das älteste von elf Kindern, die von einem russisch-orthodoxen Priester und seiner Frau erzogen wurden. Wegen einer frühen Verletzung als Kind konnte er erst ab seinem elften Lebensjahr die Schule besuchen. Schon vorher fiel seine hohe Intelligenz auf und er zeigte akademisches Potenzial.

Schon mit sieben Jahren konnte er lesen. Nachdem er vom Theologiestudium in Rjasan zum Studium der Physiologie nach Sankt Petersburg gewechselt war, gewann er noch als Student einige prestigeträchtige Preise.

Seine größte Auszeichnung stand jedoch noch bevor. Nachdem er nach Deutschland gereist war, um dort zu promovieren, kehrte er nach Sankt Petersburg zurück und wurde 1891 eingeladen, die Abteilung für Physiologie am dortigen Institut für Experimentelle Medizin aufzubauen. Es sollte ein globales Zentrum der physiologischen Forschung entstehen.

Mehrfach war er für den Nobelpreis nominiert, den er im Jahr 1904 schließlich verliehen bekam, jedoch nicht für seine Arbeit mit den Hunden, sondern in Anerkennung seiner Arbeiten über die Speichelsekretion und Verdauungsdrüsen.  

Sein berühmtestes Experiment 

Die „konditionierten Reflexe“, für die Pawlow bekannt ist, beziehen sich darauf, dass jeder Organismus mit einem ausreichend entwickelten Nervensystem als Reaktion auf seine Umgebung spezielle Reflexe entwickeln kann. Pawlow bewies dies mit Hunden, die jedes Mal,  bevor sie Futter bekamen, einen Glockenton hörten. So lernten die Tiere schließlich, den Glockenklang mit Füttern zu verbinden und entwickelten bereits bei diesem Ton Speichelfluss, ohne dass Futter zu sehen oder zu riechen war. 

Sein Labor war auch als „Turm der Stille“ bekannt. Es befand sich im Zentrum der alten kaiserlichen Hauptstadt auf der Petrograder Insel. Pawlow war ein Ruhesuchender, doch die Geschichte verwehrte ihm dies. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die Revolution führten zu Chaos und Gewalt in Sankt Petersburg. 

Russlands erste Wissenschaftsstadt 

Während Pawlow mit Kritik an der sowjetischen Ideologie nicht hinter dem Berg hielt, genoss er zugleich Lenins Anerkennung für seine wissenschaftlichen Errungenschaften. „Pawlow brauchte Ruhe zum Arbeiten“, sagt Irina Aktuganowa. Er schrieb Lenin einen Brief, dieser solle ihm einen „Ort, an dem ich in Frieden arbeiten kann“ verschaffen oder er wandere aus. 

Sein Plan ging auf. Er erhielt Gold im Gegenwert von damals etwa einer Million Rubel, um sein Labor zu verlegen. In Koltuschi ließ er einen Komplex für experimentelle Medizin bauen und drum herum die erste Wissenschaftssiedlung Russlands mit dem Labor, einem selten genutzten Wohnhaus, einem Hotel und Restaurant, fünf Häusern für Angestellte und natürlich Zwingern und Käfigen für seine Versuchstiere.

Das Dorf wuchs im Laufe der Jahre immer weiter und wurde schließlich zum funktionalen Vorort des ebenfalls immer größer werdenden damaligen Leningrads (heute Sankt Petersburg). „Wenn Sie sich den Ort heute betrachten, ist es kaum zu glauben, dass hier eine  weltberühmte Persönlichkeit gelebt hat. Der Status als Unesco-Erbe soll mehr Touristen anlocken und auch die Infrastruktur soll profitieren“, erläutert Irina Aktuganowa. 

Pawlows Erbe 

Die Erinnerung an Pawlow und sein wissenschaftliches Erbe standen jedoch nicht immer ganz oben auf der nationalen Prioritätenliste. Nach seinem Tod in Folge einer Lungenentzündung im Jahr 1936 wurde die Stadt weiterhin gefördert, bis die Perestroika kam. Dann kamen Fördergelder eher den Geisteswissenschaften zugute, die all die Jahre zuvor vernachlässigt worden waren. 

Dennoch gibt es heute ein Museum, das den letzten Jahren Pawlows gewidmet ist. Dort finden sich Bilder von ihm mit seiner Frau Serafima oder kurz Sara und ihren Kindern (von denen zwei traurigerweise starben, als Pawlow noch lebte). Daneben sind Fotos von internationalen Besuchern wie Niels Bohr und H.G. Wells zu sehen.

Fotos berühmter lokaler Künstler wie Ilja Repin beweisen, dass in Pawlows Zeitalter Kunst und Wissenschaft nicht unbedingt Konkurrenten waren. Die Dauerausstellung im Untergeschoss, ein Kooperationsprojekt zwischen jungen Künstlern und Wissenschaftlern, will diese Tradition wiederbeleben. 

Nach Pawlow sind inzwischen Asteroiden, Mondkrater benannt und wissenschaftliche Prinzipien sind mit ihm verbunden. Überall kann man etwas vom Forscher Pawlow erfahren, jedoch noch immer weniger über ihn selbst. Diese Gebäude halten die Erinnerung an ihn wach, genau wie seine berühmten Hunde. Sie sind das Vermächtnis eines bemerkenswerten Wissenschaftlers, der die Art und Weise verändert hat, wie wir über unser Verhalten denken und über all die noch unerforschten Geheimnisse unseres Gehirns. 

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