Atom im Alltag: In der UdSSR konnte radioaktives Material im Laden erworben werden

Wissen und Technik
JEKATERINA SINELSCHTSCHIKOWA
„Isotopi“ war der Name eines Fachgeschäfts in Moskau, das radioaktive Materialien verkaufte. Die Nachfrage war sehr hoch. Aber wie war so etwas möglich?

Das Geschäft „Isotopi“ wurde 1959 am Leninski Prospekt in Moskau eröffnet. Auf dem Dach des Gebäudes befand sich ein riesiges Neon-Werbeschild mit der Darstellung eines Atoms in vier Farben und dem Slogan „Atom für den Frieden“ in Russisch, Englisch und Französisch.

Dieser Satz erklärte die Gründung eines solchen Geschäfts: In den späten 1950er Jahren setzte die Sowjetunion auf die Nutzung von Nuklearenergie zu friedlichen Zwecken. Radioaktivität sollte im Alltag der sowjetischen Bürger normal werden. 

Verstrahlte Kartoffeln 

1934 hatte der französische Physiker Frédéric Joliot-Curie gezeigt, dass Radioaktivität vom Menschen erzeugt werden kann. Bis dahin war nicht nur angenommen worden, dass künstlich erzeugte Strahlung unmöglich sei, sondern auch, dass radioaktive Emissionen unkontrollierbar seien, dass man sie weder verlangsamen noch beschleunigen könne und dass es sich um einen in sich geschlossenen intraatomaren Prozess handele. Joliot-Curie bewies das Gegenteil: Bei Bestrahlung von Aluminium mit Polonium erhielt er Atomkerne aus Phosphor, ein radioaktives Isotop. Dies kommt in der Natur durch den radioaktiven Zerfall nicht vor.  

Der auffälligste Aspekt der Entdeckung war, dass das Isotop seine Radioaktivität nur für kurze Zeit beibehielt und sein Strahlungsniveau leicht zu messen war. Es waren diese Eigenschaften, die ein weites Anwendungsfeld von Isotopen in Industrie, Wissenschaft, Medizin und sogar in der Kunstwelt versprachen. Nur ein Jahr nach der Entdeckung der künstlichen Radioaktivität hatten Wissenschaftler mehr als weitere 50 radioaktive Isotope entdeckt. 

Sie funktionierten wie unsichtbare Funkquellen und sendeten kontinuierlich Signale. Sie konnten mit Hilfe von Strahlungsdetektoren oder Ladungspartikelzählern überwacht werden. Sie konnten zum Beispiel auch genutzt werden, um den Zustand der Wände von Hochöfen zu untersuchen, und zwar, während dieser in Betrieb war. Man musste lediglich radioaktives Material in die Ofenwand einbringen. Wenn später im Gusseisen Strahlung festgestellt werden konnte, war dies ein Zeichen für eine Verschlechterung des Ofens.

Isotope wurden auch genutzt, um Fische zu zählen, ohne sie aus dem Wasser zu nehmen, um die Dichte von Fell zu messen oder um festzustellen, wie gut Pflanzen Dünger aufnehmen. Es war möglich, mit den Isotopen ein Leck in einer Gasleitung zu identifizieren, die Bodenfeuchtigkeit zu bestimmen, Gastritis, Magengeschwüre und Krebs zu diagnostizieren, wertvolle Kunstwerke, Schmuck und Banknoten zu kennzeichnen und Kartoffeln zu bestrahlen, damit sie nicht vorzeitig keimten. Mit ihrer zivilen Atomagenda tat die UdSSR alles, um sich von den militaristischen USA zu abzuheben, die Hiroshima bombardiert hatten.

Verkäufer mit wissenschaftlichem Hintergrund  

„Isotopi“ war natürlich kein ganz normales Geschäft, in dem jeder einkaufen konnte. Die Materialien wurden nur an autorisierte Käufer ausgegeben. Es war obligatorisch, ein offizielles Dokument des Arbeitgebers vorzulegen, das die Berechtigung zum Kauf von Waren dieser Art auswies. In der Regel waren die Käufer Vertreter von Fabriken, Industrieanlagen und Forschungsinstituten. Die Isotope wurden in strahlungssicheren Behältern verkauft, die innerhalb von 15 Tagen in den Laden zurückgebracht werden mussten.

Die Verkäufer hießen „wissenschaftlicher Direktor“ und waren hochqualifiziert. Das Produkt selbst bekam man bei „Isotopi“ nicht direkt zu sehen. Der Käufer musste sich auf Abbildungen im Katalog und ein Leucht-Display verlassen, das die Verfügbarkeit anzeigte. Das Geschäft erhielt seine Ware direkt vom Innenministerium.  

Radioaktiver Export 

Die 1950er Jahre waren eine Boomperiode für Radioisotopengeräte und -instrumente - sie zeichneten sich durch ein hohes Maß an Einfachheit und Preisgünstigkeit aus. 

In der sozialistischen Planwirtschaft, in der Engpässe alltäglich waren, gab es bei der Lieferung von Isotopen und Schutzausrüstung jedoch oft Probleme mit der Verfügbarkeit und zudem mit der Verpackung und dem sicheren Transport. Der sowjetische Postdienst musste sich mit den Gefahren radioaktiver Strahlung auseinandersetzen. 

Der Mangel und die Probleme mit Logistik, Verpackung, Versand und Sicherheitsfragen dämpften die Euphorie über Isotope innerhalb der Sowjetunion, aber nicht im Ausland.  Aufgrund ihrer hohen Qualität und des niedrigen Preises wurden sowjetische Isotope auf dem westlichen Markt sehr geschätzt.

Abgesehen von dem staatlichen Monopolisten, der für den Export von Produkten auf Isotopenbasis zuständig war, haben Wissenschaftler sich diese auch illegal von verschiedenen sowjetischen Forschungsinstituten beschafft und außer Landes gebracht. Der Westen „bezahlte“ dafür mit wissenschaftlicher Ausrüstung oder der Finanzierung von Forschungsvorhaben. Solche Geschäfte waren in der Regel im Rahmen internationaler Abkommen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit vorgesehen.

Ab den 1990er Jahren nahmen Exporte dieser Art massive Ausmaße an, und sowohl private als auch an Forschungsinstitute angeschlossene Unternehmen waren daran beteiligt. Der Laden „Isotopi“ schloss 1990, kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion.