Die Russen lassen immer öfter ihr Erbgut entschlüsseln. Foto: Reuters
Der Gentechnikmarkt in Russland wächst. Nach Angaben von Genotek, einem Unternehmen, das auf die Erforschung des Genoms spezialisiert ist, wollen immer mehr Russen ihr Erbgut entschlüsseln lassen, monatlich nimmt die Zahl der Interessenten um zehn bis zwölf Prozent zu. „Der Gentechnikmarkt birgt ein großes Potenzial. Viele Russen wollen wissen, welche Informationen aus ihrem Erbgut ermittelt werden können", erklärt Marianna Iwanowa, Gründerin der Firma Oftalmik, die auf die Diagnostik von Augenkrankheiten mittels DNA-Tests spezialisiert ist, gegenüber RBTH. Daher gebe es folgerichtig derzeitig auch ein großes Angebot. In der Gentechnik-Branche werden immer neue Unternehmen gegründet. Die jüngste Firma, die Ende September an den Start geht, ist die Atlas Biomed Group.
Genetik-Branche wächst
Privatunternehmen, die sich auf DNA-Tests für den prädikativen Gebrauch spezialisiert haben, gibt es in Russland noch nicht so lange. Das bereits erwähnte Unternehmen Genotek ist noch ein Start-up. Als Vorbild für sein Geschäftsmodell diente die US-amerikanische Firma 23andMe, die 2008
von Linda Avey und Anne Wojcicki, der Ex-Frau von Google-Mitbegründer Sergey Brin, ins Leben gerufen wurde.
Auch die am Innovationspark der Moskauer Staatlichen Universität Lomonossow wirkende Firma Moj Gen gibt es erst seit 2007. Das Unternehmen bietet Dienstleistungen im Bereich der nicht-invasiven pränatalen Diagnostik an, um die Chromosomen-Pathologie von Föten zu untersuchen. Vertreter des Unternehmens versichern, dass ihre erst vor zwei Jahren entwickelte Methodik nur in sechs anderen Laboratorien auf der Welt angewandt werde: Ein Labor befindet sich in China, die restlichen in den USA. Private Genforscher führen außerdem Gentests durch, um zum Beispiel die Veranlagung für eine Krankheit lange vor deren Ausbruch zu entdecken. Beliebt ist auch Ahnenforschung per Genanalyse.
Eines besonderen Interesses erfreuen sich zudem Unternehmen, die spezialisierte DNA-Tests anbieten. Als Beispiel dazu kann die in Sankt Petersburg tätige Firma Sequoia Genetics genannt werden, die bereits mehr als 1 500 DNA-Proben von an Mukoviszidose erkrankten Menschen gesammelt haben. Die Moskauer Firma Oftalmik ist auf die Untersuchung von Genen jener Menschen spezialisiert, die an Augenerkrankungen leiden. Unlängst hat sich in Russland auch das international tätige Pharmaunternehmen Roche mit der Erforschung des menschlichen Genoms beschäftigt.
In Russland sind DNA-Tests teuer
Die meisten Genuntersuchungen konzentrieren sich in Russland auf die Analyse von Veranlagungen zu bestimmten Krankheiten. Das könnte daran liegen, dass Gentests in Russland sehr teuer sind und die Bevölkerung daher nur für ihre Gesundheit relevante Tests durchführen lässt. Es gibt jedoch auch Klienten, die sich für ihre Abstammung interessieren und diese anhand von DNA-Tests feststellen lassen. So soll vor nicht allzu langer Zeit ein ominöser russischer Politiker zu diesem Zweck seine Haplogruppe
bestimmt haben lassen. Haplogruppen werden verwendet, um genetisch verwandte Gruppen in der Bevölkerung zu identifizieren. „Die Analyse zeigte, dass der Politiker dieselben Vorfahren hatte wie Napoleon, Einstein und Hitler. Er war so stolz darauf, dass er anderen Politikern mitteilte, Napoleon sei sein Verwandter", erzählt Walerij Ilinskij, wissenschaftlicher Leiter des Unternehmens Genotek.
Laut Marianna Iwanowa vom Unternehmen Oftalmik verfügt Russland über die nötige Technologie zur Erforschung von Genomen. In der Fakultät für Biotechnologie der Moskauer Staatlichen Universität befindet sich beispielsweise der Supercomputer „Lomonossow", der zu den Top 100 der stärksten Supercomputer weltweit zählt.
Dennoch bezahlt man in Russland für Genuntersuchungen mehr als in anderen Ländern. In den USA kostet ein DNA-Test rund 70 bis 150 Euro, derselbe Test in Russland kostet 450 bis 620 Euro. Daher ist es kaum verwunderlich, dass viele Russen nach einer Möglichkeit suchen, diese Untersuchungen im Ausland durchführen zu lassen, obwohl es gesetzlich untersagt ist, Erbgut außer Landes zu bringen. Doch es gibt Schlupflöcher, um Genproben ins Ausland zu bringen: Freunde oder Verwandte, die in den USA oder Europa leben, werden oft zu Boten von Röhrchen mit Speichelproben, die außerhalb Russlands analysiert werden sollen.
Ein umstrittenes Geschäftsmodell
Dem US-amerikanischen Unternehmen 23andMe, das nicht nur für Genotek Modell stand, wurde durch die US-Arzneimittelbehörde FDA 2013 verboten, Sets für die Durchführung einer genetischen Gesundheitsanalyse an Privatpersonen zu verkaufen. Die Behörde verwies auf mögliche Fehlerquellen. Aus diesem Grund stellte 23andMe die Gesundheitsanalyse ein und beschränkte sich auf Angaben zur geografischen Herkunft.
Anne Wojcicki war über die Entscheidung der Arzneimittelbehörde nicht sonderlich erfreut. Sie befürchtete einen Wettbewerbsnachteil gegenüber der weltweiten Konkurrenz. „Sehen Sie sich an, was das Genomics Institute in Peking macht. Und in Saudi-Arabien will man bei 100 000 Menschen eine DNA-Typisierung durchführen lassen. Die ganze Welt entwickelt sich weiter, nur wir bleiben stehen", kritisierte Wojcicki in einem Interview mit der Medizinplattform Medscape.
Genforschung – eine verbotene Wissenschaft?
In den 1930er-Jahren wurden Genforscher in der UdSSR noch verfolgt. Bürger der Sowjetunion können keine Erbkrankheiten haben, lautete die Staatspropaganda. Zudem bildeten Diskussionen über das Erbgut von
Menschen die Basis für Rassismus und Faschismus. An der Spitze der Verfolgungskampagne stand der ehemalige Direktor des Instituts für Genetik der Akademie der Wissenschaften der UdSSR Trofim Lyssenko. Unter seiner Leitung wurden in der Sowjetzeit viele talentierte Genetiker verhaftet, die dann später in Gefangenschaft ums Leben kamen. Den weltweit bekannten Nikolaj Wawilow beispielsweise, Begründer der Theorie von den geografischen Genzentren der Kulturpflanzen, beschuldigte man, ein englischer Spion zu sein, verhaftete ihn und warf ihn ins Gefängnis von Saratow, wo er schließlich an Unterernährung starb. Von Josif Rapoport, der für die Entdeckung der chemischen Mutagenese bekannt ist, verlangte man 1948, dass er die Theorie vom menschlichen Chromosom ablehnt. Dieser folgte der Aufforderung, wurde aber dennoch aus dem Institut, wo er arbeitete, ausgeschlossen. Auch die Schüler der Genforscher wurden verfolgt und verhaftet. Der amerikanische Wissenschaftler und Nobelpreisträger Hermann Muller bemerkte einmal, dass man in der Sowjetunion mit Genetikern so umgegangen sei wie die Inquisition mit Galileo Galilei.
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