Die Tragödie um Flug MH17: Eine Geschichte voller Lügen

Konstantin Maler
Ein Jahr nach dem Absturz einer malaysischen Passagiermaschine über der Ukraine mit fast 300 Toten gibt es Forderungen nach einem UN-Tribunal zur Aufklärung der Absturzursache. Doch was weiter fehlt, sind handfeste Beweise. Witalij Leibin schreibt über die schwierige Suche nach der Wahrheit.

Vor einem Jahr, am 17. Juli 2014, ereignete sich eine der schlimmsten Tragödien des großen, immer noch andauernden Krieges in Europa: In der ukrainischen Oblast Donezk, nahe der Stadt Tores, stürzte ein Passagierflugzeug auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur ab. Alle 298 Menschen an Bord starben.

Von Anfang an ist die Öffentlichkeit im Westen und in der Ukraine überzeugt: Die Tragödie verschuldet haben entweder die prorussischen Aufständischen – also die Volksmilizen im Donbass – oder Russland selbst. Dass diese Version nach offiziellen Untersuchungen bestätigt wird, ist nicht auszuschließen, doch bislang ist dies nicht geschehen.

Noch sind die Ermittlungen nicht abgeschlossen. Und so lange bleiben uns nur wenige Fetzen oftmals politisch und emotional gefärbter Erklärungen seitens der in die Ursachenforschung involvierten Verantwortlichen. Die Untersuchung sei nahe dran, die Schuldigen zu finden, verkündete der malaysische Premierminister Najib Razak ohne Namen zu nennen. Ein vorläufiger Bericht sei internationalen Experten vorgelegt worden. Das erfuhr die Öffentlichkeit durch eine Sendung des Fernsehsenders „CNN“, der sich dabei auf anonyme Quellen berief. Auch in dieser Fernsehsendung werden „Separatisten“ beschuldigt. Das vollständige Dokument wird nicht präsentiert.

In einer politisch und moralisch derart bedeutenden Frage muss sich die Weltöffentlichkeit ein Jahr lang offizielle Erklärungen gefallen lassen, die selten mit Argumenten unterlegt sind und von Regierungen stammen, die ihre eigenen Interessen in dem Konflikt verfolgen. Die zweitwichtigste Informationsquelle sind „Insiderkreise“ oder „Quellen, die nicht genannt werden wollen“. Oftmals handelt es sich dabei um Expertenmeinungen, die aus „offen zugänglichen Informationen“ ihre Schlüsse ziehen oder um falsche, zum Teil redaktionell bearbeitete Angaben aus sozialen Netzwerken.

 

Im Krieg wird immer gelogen

In allen Kriegen lügen alle Konfliktseiten. In der Ukraine-Krise lügen nicht nur die unmittelbar Beteiligten – die ukrainische Regierung und die Aufständischen – sondern auch ihre einflussreichen Unterstützer – westliche Länder auf der einen, Russland auf der anderen Seite. Die sonst so freie und kritische westliche Öffentlichkeit erliegt einem bislang nie da gewesenen Schwund an kritischem Urteilsvermögen. Wir, in Russland, dem man – oftmals durchaus berechtigt – mangelnde Meinungsfreiheit vorwirft, können darüber nur staunen. Es stimmt: Unsere offiziellen Fernsehsender verkünden regelmäßig regierungsnahe und antiukrainische Versionen des Geschehens. Doch es gibt auch Massen an gegenläufigen Publikationen, deren Zweck es ist, Standpunkte des Westens und der Ukraine zu vermitteln. Wir haben jedenfalls die Freiheit zu vergleichen.

Das Maß an öffentlicher Kritik im Westen ist für den Kriegsverlauf entscheidend. Es kann den Krieg stoppen, kann aber auch weiteres Blutvergießen beschleunigen. Die Vernunft sagt, dass die Weltgemeinschaft nach der Tragödie vom 17. Juli 2014 alles hätte unternehmen müssen, um die Waffen wenigstens für die Zeit der Ursachenermittlung schweigen zu lassen. Stattdessen erklärte der Westen einstimmig Russland und die Aufständischen für schuldig mit dem Verweis auf Internetquellen und US-amerikanische Satellitenfotos, die bislang unveröffentlicht blieben.

Lügen aus sozialen Netzen wirken glaubwürdiger als offizielle Unwahrheiten. Im Endeffekt beschloss die Welt – ohne das Ergebnis der Untersuchung abzuwarten –, dass Russland und die „Separatisten“ Schuld haben. Mit einer derartigen moralischen Unterstützung im Rücken stürmten ukrainische Truppen mit neuen Kräften auf ihre aufständischen Bürger los.

Nach UN-Angaben sind im Donbass bislang mindestens 6 000 Tote zu beklagen. Ein Großteil von ihnen sind Zivilisten. Ukrainische Bomben fielen unter anderem auch in unmittelbarer Nähe der Absturzstelle. Das übrigens sind keine Gerüchte aus dem Internet. Ich selbst bin oft im Donbass. Auch zu der Zeit war ich dort. Eine Eskalation der Kampfhandlungen bestätigen auch westliche Kollegen, auch die Beobachter der OSZE.

Was wissen wir im Augenblick genau? Wir wissen, dass seit dem 26. Mai 2014, nach der Wiederwahl Poroschenkos zum Präsidenten – im Wahlkampf hatte er baldigen Frieden versprochen – der Krieg in der Ukraine in seine neue Phase trat. Die ukrainische Luftwaffe flog Luftangriffe gegen eigene Städte. Zuerst wurde die Millionenstadt Donezk beschossen. Zivilisten starben. Danach folgte Lugansk. Bei einem Beschuss des Stadtzentrums starben friedliche Bürger und die ukrainische Regierung log ganz unverhohlen, Aufständische hätten die Toten zu verantworten, weil sie in eine Klimaanlage am Verwaltungsgebäude geschossen hätten. Die Vororte von Slawjansk sind nach den ukrainischen Bombardements vom Erdboden verschwunden. Ich war vor kurzem dort. An vielen Stellen sind die Trümmer bis heute nicht aufgeräumt, obwohl die Ukraine diese Gebiete für „befreit“ erklärte.

 

Wird die Wahrheit nie ans Licht kommen?

Am 17. Juli 2014 war der Luftkrieg voll im Gange. Bei den Donbass-Milizen tauchten schlagkräftige Luftabwehrsysteme auf, möglicherweise nicht ohne Unterstützung Russlands. Die Gegner Kiews holten ukrainische Jagdbomber vom Himmel und schossen sogar ein ukrainisches Transportflugzeug in großer Höhe – 6 500 Meter – ab.

Zu vermuten, die Aufständischen hätten die Boeing abgeschossen, weil sie über unzureichende Aufklärungsmöglichkeiten oder mangelnde Kriegserfahrung verfügt und daher ein Passagierflugzeug mit einer Kampfmaschine verwechselt hätten, liegt durchaus nahe. Zumal einer der damaligen Milizenführer, Igor Strelkow, an dem Tag erklärte, ein ukrainisches Militärflugzeug sei in der Gegend um Tores abgeschossen worden.

Die Boeing abzuschießen wäre theoretisch auch den ukrainischen Militärs zuzutrauen, denn sie befürchteten, die Aufständischen hätten über Luftstreitkräfte verfügt. Bis heute ist dies nicht der Fall. Die Verantwortlichen auf ukrainischer Seite lügen ebenfalls täglich wie gedruckt. Sie logen auch, als sie behaupteten, am 17. Juli 2014 seien keine ukrainischen Militärflugzeuge in der Luft gewesen.

Möglicherweise wird die offizielle Ursachenermittlung mit einem gewissen Maß an Genauigkeit feststellen, von wo aus und von welchem Waffensystem der tödliche Schuss abgegeben wurde. Nur hatte der Krieg an dem Tag keine einheitliche Frontlinie. Sie war stellenweise durchbrochen und an mehreren Stellen hielten sich gleichzeitig die ukrainische Armee und die Aufständischen auf.

In jedem Fall aber ist die Hauptursache für den Absturz der Krieg in der Ukraine. Um die Wahrheit ans Licht zu bringen und eine weitere Zuspitzung des Blutvergießens – unter dem Vorwand des Mitgefühls für die toten Passagiere der MH17-Maschine – nicht zuzulassen, ist eine kritische Position der westlichen Öffentlichkeit unabdingbar. Die Wahrheit ist, dass Menschenleben unbezahlbar sind. Der Mord an Zivilisten in Donezk oder Gorlowka ist ebenso nicht zu rechtfertigen, wie der Mord an den Passagieren der malaysischen Boeing.

Witalij Leibin ist russischer Journalist und Chefredakteur des Nachrichtenmagazins „Russkij reporter“.   

 
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