Agrarwirtschaft: Vom hoffnungslosen Fall zum Wachstumsmotor

Die Anbaufläche in Russland ist heute geringer als zu Zeiten der Sowjetunion, die Produktivität dagegen ist massiv gestiegen. Dabei haben Millionen Arbeitskräfte die Branche verlassen.

Die Anbaufläche in Russland ist heute geringer als zu Zeiten der Sowjetunion, die Produktivität dagegen ist massiv gestiegen. Dabei haben Millionen Arbeitskräfte die Branche verlassen.

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Keine Kredite, horrende Zinsen: Russlands Bauern haben die gleichen Probleme wie andere Unternehmer auch. Doch die Aussichten auf Wachstum sind besser als anderswo im Land.

George Bushs Schenkel sind für viele Russen bis heute ein Albtraum. Doch vor gut 25 Jahren schienen sie die Rettung zu sein. Denn die gefrorenen Hühnerbeine aus Amerika, die der Volksmund nach dem damaligen US-Präsidenten taufte, füllten die leeren Kühltruhen sowjetischer Lebensmittelgeschäfte. Gleichzeitig wa-ren sie ein Zeichen des Niedergangs, denn das große Sowjetreich war nun auf Lebensmittel angewiesen, die der amerikanische Verbraucher nicht haben wollte. 

Heute deckt Russland seinen Bedarf an Hähnchenfleisch selbst und wird im laufenden Jahr sogar 
Hunderttausende Tonnen Geflügel exportieren, wie das Landwirtschaftsministerium vorrechnet.
Lange Zeit galt die Landwirtschaft in Russland als ein Sorgenkind. Weder für Großinvestoren noch für selbstständige Bauern verlockend, resignierte die Branche angesichts einer massiven Land-flucht. Der Bevölkerung fehlten Aussichten auf lebenswürdige Einkommen. Es war ein langwieriger und kaum wahrgenommener Prozess, der die Branche vom Sorgenkind zum Hoffnungsträger der 
gebeutelten Wirtschaft des Landes werden ließ. Und an seinem Anfang stand der Niedergang.

Zu Beginn der Privatisierung landwirtschaftlicher Flächen – zuvor von staatlichen Kolchosen bewirtschaftet – stieg das Interesse an der Arbeit „auf dem Land“ rapide: Die Idee von der eigenen 
Selbstständigkeit fiel bei zahlreichen Landwirten auf fruchtbaren Boden. So ging die Staatsquote bei der Nutzung der Agrarflächen von 56 Prozent im Jahr 1991 auf 13,4 Prozent 1997 zurück. Doch seit 1995 nahm die Anzahl selbstständiger Bauern wieder stetig ab. Nur wenige konnten wirtschaftlicher Instabilität, galoppierender Inflation und Absatzschwierigkeiten bei gleichzeitig steigenden Betriebskosten die Stirn bieten. 

Daher gab es nahezu niemanden, der mit den Importeuren hätte konkurrieren können, als die Nachfrage mit dem Wirtschaftsboom nach der Jahrtausendwende anzog. In den meisten Regionen war die Landwirtschaft ein Minusgeschäft. Somit stiegen Lebensmittel- und Agrareinfuhren nach Russland zwischen 2000 und 2013 um das Sechsfache an – von 6,25 auf 36,6 Milliarden Euro.

Das zog die Aufmerksamkeit von Investoren auf die brach liegende Branche. Die Agrar- und Lebensmittelindustrie begann in einigen Regionen Russlands, hauptsächlich im Süden des Landes, in den Wolga-Regionen und im Umkreis der Metropolen Moskau und Sankt Petersburg, Geld zu bringen. Es entstanden große landwirtschaftliche Betriebe. Steigende Erträge zeigte der Ackerbau bei Weizen, Gerste, Mais, Zuckerrüben, Sonnenblumen und Kartoffeln. 

In der Viehwirtschaft verzeichneten Geflügel und Schweinefleisch ordentliche Zuwächse. Einfuhrbeschränkungen trugen nicht unwesentlich dazu bei. 2006 wurde etwa der Import von den besagten „Bush-Schenkeln“ verboten, aus Verbraucherschutzgründen. 

Die Bilanz kann sich sehen lassen. Fast unbemerkt stiegen die Agrar-
exporte seit 2004 von 2,7 auf 16,4 Milliarden Euro im vergangenen Jahr. Zwar ging die Gesamtfläche bewirtschafteter Böden seit der Sowjetzeit zurück. Wichtiger als die Größe des Anbaugebiets ist 
jedoch die Produktivität. Diese stieg in den letzten 20 Jahren pro Beschäftigten um das Vierfache, wobei in dem Zeitraum mehr als sieben Millionen Menschen die Branche verließen.

Foto: Aleksandr Krjazhew/Ria Nowosti

Schwacher Rubel stützt die Landwirtschaft

Der Unternehmer Wadim Moschkowitsch, Mitbegründer der russischen Agrarholding Rosagro, kam erst vor einiger Zeit in die Branche. 2009 plante er noch ein massives Bauvorhaben. Innerhalb eines Vierteljahrhunderts sollte in der Nähe Moskaus eine „Stadt in der Stadt“ mit zwölf Millionen Quadratmetern Wohnraum und acht Millionen Quadratmetern Gewerbeflächen entstehen. Für mehr als 900 000 Menschen war die zukünftige Siedlung konzipiert. Doch im letzten Jahr brachen schwere Zeiten über die Baubranche herein: Kaufkraftverlust und schwache Konjunktur trafen den Wohnungs- und Gewerbeimmobilienmarkt gleichermaßen.

Im Juni dieses Jahres verkaufte Moschkowitsch seine Bausparte und kündigte an, den Erlös (1,3 bis 1,8 Milliarden Euro) vorrangig in die Fleischwarenproduktion zu investieren. Auf den ersten Blick eine ungewöhnliche Investment-Idee. Doch tatsächlich wächst die Produktion von Schweinefleisch, Geflügel und Futtermitteln von allen Bereichen derzeitam schnellsten.

Nicht nur Unternehmer schöpfen neues Vertrauen. Auch die russische Regierung schätzt die Landwirtschaft inzwischen anders ein. Bei der Ernennung Alexander Tkatschews zum Landwirtschaftsminister Ende April dieses Jahres formulierte Kremlchef Wladimir Putin dessen anstehende Aufgabe so: „Man muss mit eigenen Produkten, mit den Produkten russischer Hersteller, den eigenen Markt füllen. Und das muss schnell geschehen, um die Überhitzung des Lebensmittelmarkts zu dämpfen und die Preise zu senken.“

Vor seiner Ernennung zum Minister war Tkatschew Gouverneur einer der wichtigsten landwirtschaftlichen Regionen Russlands – der Region Krasnodar. Davor 
leitete er die Agrarholding Agrokompleks. Nach seiner Einschätzung können Importe in zwei bis drei Jahren größtenteils substituiert werden. Dann würde das Land zu 90 Prozent aus heimischer Herstellung versorgt werden. 
Größtes Potenzial sieht Tkatschew
beim Obst- und Gemüseanbau. In dieser Produktkategorie betrugen die Importe weit über 50 Prozent. Nach Angaben des Ministers wurden bis zur Einführung der Lebensmittelsanktionen jährlich bis zu 200 000 Tonnen Gurken (30 Prozent des Verbrauchs) und 800 000 Tonnen Tomaten (60Prozent des Verbrauchs) eingeführt.

Die Nachfrage ist da, es fehlt an Investitionen

Doch mit dem Geschäft wachsen auch die Probleme. „Angesichts gestiegener Zinssätze und der Schwierigkeiten, Kredite zu bekommen, bauen viele Unternehmen ihre Produktion mit eigenen Mitteln aus“, betont Daria Snitko von der Gazprombank. Einige Unternehmer investieren in den Agrarsektor, um sich vor Verlusten in anderen Branchen zu schützen. Für große Projekte „von null auf“ fehle allerdings langfristiges Kapital – Finanzierungen sind zu teuer, und die erhöhten Margen aufgrund gestiegener Absatzpreise würden durch gestiegene Kosten importierter Technik nivelliert werden, erklärt die Expertin.

Pawel Grudinin, Chef der Lenin-Sowchose, einer der größten landwirtschaftlichen Betriebe Russlands, sieht die Ministeriumspläne zur Importsubstitution kritisch: Um die Milch- und Fleischpro-duktion zu steigern, müssten neue Viehherden gezüchtet werden. In drei Jahren sei dies nicht zu schaffen. Auch der Obstanbau verlange mehr Zeit. 

Unter diesen Umständen ist der Anbau von Gemüse für die Landwirte am lukrativsten. Investitionen rentierten sich hier schneller, Kredite dafür seien einfacher zu bekommen, sagt Daria Snitko. Weitere attraktive Segmente: Käseherstellung, Fischzucht und -verarbeitung sowie die Samenherstellung, von der Russland den größten Teil importiert. 

Investoren, insbesondere aus dem Ausland, zögern, auch aus Angst, Russland könne die Lebensmittelsanktionen zurücknehmen. Der Wettbewerbsvorteil gegenüber Herstellern ohne eigene Kapazitäten wäre dann möglicherweise dahin. Experten allerdings halten dieses Risiko für überbewertet: Wettbewerbsvorteile zu verlieren, drohe höchstens Obstproduzenten. In anderen Zweigen seien die lokalen Agrarbetriebe und Landwirte durchaus konkurrenzfähig – wenn es ihnen gelingt, die Kapazitäten zu modernisieren und die technologischen Prozesse erfolgreich zu managen.

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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