Stirbt Russlands Mittelschicht aus?

Russlands Mittelschicht ächzt unter der Wirtschaftskrise.

Russlands Mittelschicht ächzt unter der Wirtschaftskrise.

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Sie war ein Symbol für das neue Russland: Die Mittelschicht, die in den Jahren des Aufbruchs entstand. Doch die Wirtschaftskrise hat sie hart getroffen. Wird Russlands gerade gewachsene Mittelschicht bald schon wieder Geschichte sein?

Die Mittelschicht ist eine relativ neue Erscheinung in Russland. Ihren Wohlstand begründete sie in den Neunzigern, sie profitierte vom globalen Hunger nach Öl. Zur Mittelschicht zählten Menschen mit den unterschiedlichsten politischen Ansichten, Liberale wie Konservative. Sie gründeten kleine Unternehmen, fuhren komfortable ausländische Autos, gingen zum Essen in gute Restaurants und investierten in die Zukunft der Kinder, die es einmal besser haben sollten.

Von der Krise 2008 konnte sich die Mittelschicht gerade noch erholen. Doch unter der aktuellen Wirtschaftskrise in Russland leidet die Mittelschicht am meisten und sie schwindet rapide unter dem Druck wirtschaftlicher Instabilität und westlicher Sanktionen. Mit dem Rubel schwächelt auch die Kaufkraft der Mittelschicht, und zwar massiv. Verdiente ein Angestellter in der freien Wirtschaft vor der Krise zwischen 2 000 und 2 500 Euro, fielen die Gehälter innerhalb weniger Wochen um etwa die Hälfte.  

Was macht die russische Mittelschicht aus? Soziologen machen ihren typischen Vertreter daran fest, ob sein Gehalt für die folgenden fünf Dinge ausreicht: ein hochwertiges, vorzugsweise deutsches oder japanisches Auto, Urlaub im Ausland, eine gute Ausbildung für die Kinder, eine Hypothek für eine Eigentumswohnung und eine private Krankenversicherung. 2013 erfüllten 18 Prozent der russischen Bevölkerung diese Kriterien. Einer Studie im Auftrag der Regierung zufolge erfüllen heute nur noch 13 Prozent der Russen diese Anforderungen.  

Preisfrust statt Shoppinglust

Von der Wirtschaftskrise überproportional betroffen sind auch klein- und mittelständische Unternehmen. Zahlreiche Firmengründer können heute die Miete für die Gewerbeflächen nicht mehr aufbringen. Aus dem Verkauf ihrer importierten Waren schlagen sie kaum noch Profit.

Olga Promptowa, Geschäftsführerin von dd-atelier.com, eines Online-Dessoushandels, rechnet mit noch härteren Zeiten: „Ich sehe immer weniger Wachstumsmöglichkeiten. Die Menschen haben zusehends weniger Geld. Sie sparen lieber statt zu shoppen.“ Ihr Geschäft gründete sie im Vorkrisenjahr 2007. Sie kauft viel ausländische Ware ein, doch durch die Abwertung des Rubels schossen die Einkaufspreise um 20 bis 30 Prozent in die Höhe. Die dadurch bedingten höheren Verkaufspreise könnten viele Kundinnen nicht mehr bezahlen: „Vor zwei Jahren hätten sie die Ware ohne über den Preis nachzudenken gekauft“, erzählt sie.

Noch zehrt Promptowa davon, dass die Produktionskosten in Russland nicht gestiegen sind, am Gewinn musste sie bisher noch keine Abstriche machen. „Doch das wird nicht ewig so weitergehen“, befürchtet sie. „Um unseren Kunden bezahlbare Preise anbieten zu können, müssten wir billige Materialien einkaufen – so könnten wir günstigere Produkte herstellen. Doch das würde weniger Qualität bedeuten. Und das wollen wir nicht.“   

Mehr staatliche Unterstützung notwendig

Andere hatten mehr Glück und konnten vom staatlichen Programm der Importsubstitution profitieren. Boris Akimow, der ehemalige Herausgeber der russischen Ausgabe des Magazins „Rolling Stone“, hat die Online-Handelsplattform Lavka-Lavka gegründet. Dort bietet er regionale Lebensmittel an. „Es wird immer Menschen geben, die Qualität hochschätzen und direkt vom Bauern kaufen wollen“, ist Akimow überzeugt. Sein Geschäft ist seit dem vergangenen Jahr um 25 Prozent gewachsen – dem Lebensmittel-Embargo auf westliche Produkte sei Dank.

Viktor Jermakow, Vorsitzender eines Verbands klein- und mittelständischer Unternehmer, sagt, dass die Importsubstitution helfen könne, jedoch noch größerer Unterstützung durch die Regierung bedürfe: „Der Markt erwartet die besten Produkte. Damit aber die Unternehmer ihre Qualität verbessern können, brauchen sie Kredite.“ Zwar gebe es ein Kreditprogramm der Regierung, das Firmen einen Zins von 10,5 Prozent garantiere, wenn ihr Vorhaben bestimmte Anforderungen erfüllt. Doch was auf föderaler Ebene ausgedacht wurde, kommt längst nicht immer in den Amtsstuben vor Ort an. Dort stoßen kleine und mittlere Unternehmer oft auf große bürokratische Hindernisse. „Selbst, wenn Präsident angewiesen hat, keinen übermäßigen Druck auf Unternehmer auszuüben, machen die Beamten an der Basis genau das Gegenteil. Und das würgt jede Geschäftsinitiative ab“, berichtet Jermakow.

So warte nur die Hälfte russischer Regionen mit Steuererleichterungen für kleinständische Unternehmer auf: „Trotz der Tatsache, dass Regionen, die Subventionen anbieten, eine Erhöhung des Steueraufkommens feststellen, haben viele regionale Verantwortliche immer noch Angst, diesen Schritt zu gehen. Ich denke nicht einmal, dass sie die Regierungsvorhaben torpedieren wollen. Sie machen sich darüber einfach keine Gedanken“, meint Jermakow.

Die ganz besondere russische Mittelschicht

Einige Soziologen haben eine Mittelschicht bereits in der klassenlosen sowjetischen Gesellschaft ausgemacht – bestehend aus Akademikern und Ingenieuren. Nach anderer Ansicht ist der Begriff auf Russland vor dem Zerfall der Sowjetunion nicht anwendbar. Eine Mittelschicht nach westlichem Verständnis gab es in der ganzen Geschichte Russlands tatsächlich nahezu nicht. Im Russischen Reich und zu Sowjetzeiten übernahm die „Intelligenzija“ – eine gebildete Schicht nichtadeliger Abstammung – die Rolle der Mittelschicht als soziales und oppositionelles Gewissen. Sie hinterfragten das ideologische Establishment jedoch vom ideologischen, weniger vom ökonomischen Standpunkt aus. Eine Mittelschicht im westlichen Sinne begann sich in Russland – so die Theorie – erst um die Jahrtausendwende herauszubilden, als die Marktwirtschaft endgültig Einzug gehalten hat.

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