Neustart auf der Krim: Freiheit für Jewgenij

Einen Gang runter schalten, mehr Zeit für sich und das Wesentliche: Downshifting nennt man diese Suche nach einem einfachen Leben und Selbstverwirklichung. Immer mehr junge Russen zieht es dazu auf die Krim. Wie den 29-jährigen Jewgenij Tschernjachowskij.

Die Halbinsel Krim war unabhängig von ihrer völkerrechtlichen territorialen Zugehörigkeit schon immer ein beliebtes Urlaubsziel der Russen. Berge, Meer und das mediterrane Klima ziehen die Reisenden an. Auch bei Aktivurlaubern steht die Region seit jeher hoch im Kurs: Tauchen, Wandern, Bergsteigen, Fischen – nichts ist unmöglich auf der Halbinsel.  

Seit der Eingliederung der Krim in die Russische Föderation im März 2014 haben es die Bewohner aber noch mit einer weiteren Gruppe zu tun: den Downshiftern – Menschen, die des Großstadttrubels überdrüssig sind. Aussteiger nannte man sie früher und ihre Ziele hießen oft Goa oder Thailand. Heute finden wir sie immer häufiger im Landzipfel am Schwarzen Meer.

RBTH ist drei Downshiftern begegnet. Sie erzählen, was sie dazu bewegt hat, hochbezahlte Jobs in den russischen Metropolen aufzugeben, das Großstadtleben hinter sich zu lassen und auf der Krim einen Neustart zu wagen. Den Anfang der kleinen Serie macht Jewgenij Tschernjachowskij. Den 29-jährigen Kreativdirektor von Likee zog es im vergangenen Jahr von Sankt Petersburg nach Sewastopol.

Die Familie Tschernjachowskij. Bild aus dem persönlichen Archiv  

Ein Gefühl von Freiheit

„2013 haben meine Frau und ich unsere gutbezahlten Stellen im Büro gekündigt. Wir haben unseren zehn Monate alten Sohn gepackt und sind zu einer langen Reise aufgebrochen. 15 Länder haben wir bereist, bevor wir nach Sankt Petersburg zurückkehrten. Nun stand die Frage im Raum: Wo wollen wir zukünftig leben, was wollen wir tun, wie wollen wir uns weiterentwickeln?

Die Krim erschien uns ideal: Hier konnten wir unser Know-how in IT und neuen Medien zusammen mit unseren Erfahrungen, die wir auf unseren Reisen in anderen Ländern und fremden Kulturen gesammelt hatten, einbringen. Unsere Freunde waren überrascht, aber niemand versuchte uns aufzuhalten. Wir haben uns im Vorfeld beraten lassen, den Markt analysiert, unser Profil definiert und los ging es.

Als wir 2015 auf der Krim ankamen, hatte ich ständig das Gefühl, am freiesten Ort der Erde zu sein. Die Menschen waren in Jubelstimmung: Hier kannst du dein Recht aussprechen, hier kannst du es durchsetzen. Alte Lebensvorstellungen wurden dekonstruiert, die Wirtschaft erfand sich neu, das Kapital und das Top-Management wurden neu verhandelt.“

100 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen erkennen die Legitimität des Krim-Referendums vom 16. März 2014 nicht an. Sie glauben, dass es gegen die ukrainische Verfassung verstieß. Diese besagt, dass Entscheidungen über das Gebiet der Ukraine nur durch ein allukrainisches Referendum gefällt werden können. Aus Protest führten die USA und die Länder der Europäischen Union Sanktionen gegen eine Reihe russischer Beamter ein. Später wurden die Sanktionen auf ganze Sektoren der russischen Wirtschaft ausgeweitet.

Bild aus dem persönlichen ArchivBild aus dem persönlichen Archiv

Neustart erfolgreich

„Gerade hinsichtlich der IT bot sich auf der Krim ein weites und freies, weil weitgehend unreguliertes Feld. Wir haben hier eine Reihe erfolgreicher Internetplattformen aufgebaut wie beispielsweise krimonline.ru oder die Taxivermittlung brotaxi.ru. Außerdem haben wir das öffentliche Wlan-Netz aufgebaut.

Wir waren schon die zweite Unternehmergeneration und hatten es daher leichter. Unmittelbar nach der Krim-Angliederung waren die Big Player noch nicht da oder wegen der Sanktionen wieder weg. Die Kleinunternehmer konnten sich in der Umbruchphase nicht halten. 

Dann kam der Stromausfall (im November 2015 sprengten Unbekannte auf ukrainischem Gebiet die Stromleitungen, die die Krim versorgten, Anm. d. Red.). Nichts ging mehr. Stillstand total. Aber wir hatten Glück. Unser Haus steht in derselben Straße wie das örtliche Krankenhaus. Deshalb hatten wir weiterhin Strom und Internet. Und so verwandelte sich unser Haus in eine Firmenzentrale. Tagsüber wurde gearbeitet, abends dann gemeinsam gefeiert. Das waren wertvolle Erfahrungen, die wir als ein Start-up in Krisenzeiten gewonnen haben.

Ich will aber nicht so tun, als wäre das hier das Gelobte Land. Die Krim ist eine Region mit Problemen, die sich über Jahre angestaut haben. Auch wenn sie inzwischen effektiv gelöst werden. Das Stromproblem wurde mit einer Professionalität behoben, die alle unsere Erwartungen übertraf. Highspeed-Internet ist mittlerweile in nahezu allen touristischen Städten verfügbar, Straßen werden gebaut, es wird in die Infrastruktur investiert.“

Die internationalen Zahlungssysteme Visa und Mastercard haben infolge der Sanktionen im Dezember 2014 ihren Betrieb auf der Krim eingestellt. Aus diesem Grund ist auf der Halbinsel lediglich Barzahlung möglich. Die zahlreichen Werbeplakate, die überall auf der Krim eine Bareinlösung versprechen, sind illegal. Die Einheimischen nutzen das russische Zahlungssystem Pro100 und heben Geld gebührenfrei bei der RNKB-Bank ab. Medienberichten zufolge akzeptieren diese Geldautomaten auch Kreditkarten von Mastercard.

Die Zukunft? Töpfern und Tanzen

Die Familie Tschernjachowskij. Bild aus dem persönlichen Archiv

„Wir machen uns über Russland keine Illusionen, aber wir leben in einem hinreichend freien Land. Und auch Russland ist ein Land der Möglichkeiten, so versprechen es die Werbeplakate.

Die Pläne unseres Teams sind ambitioniert: Das Ziel ist eine gemeinsame Touristikplattform für die Krim, auf der Behörden, Unternehmen und Verbraucher zusammenkommen. Damit soll die Planung einer Krim-Reise aus einer Hand möglich sein. Und wir wollen die Halbinsel im In- und Ausland als Reiseziel promoten.

Meine persönlichen Pläne sind einfach: Eines Tages werde ich alt sein und aufhören, zu arbeiten. Meine Frau wird töpfern und ich werde die Ware von Hand anmalen. Und dann werden wir Wein trinken und in einer Vollmondnacht in schneeweißer Kleidung auf der Straße tanzen. So in etwa wird es sein.“

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