Das Gesuch der afghanischen Regierung an Russland, dem Land Hilfe im Kampf gegen die bewaffnete Opposition zu erweisen, hat das Kräfteverhältnis in der Region infrage gestellt. Bis zu diesem Zeitpunkt galt Afghanistan als Einflusssphäre der USA und der Nato. Kabul war abhängig von der militärischen und finanziellen Unterstützung der westlichen Bündnispartner, mit deren Hilfe der Kampf gegen die Taliban und andere terroristische Gruppierungen in der Region geführt wurde.
Aber die jüngsten Ereignisse haben gezeigt, dass die Ressourcen der afghanischen Armee und der Nato zum Aufrechterhalten einer komplexen, aber stabilen Situation im Norden Afghanistans nicht ausreichen. Im Frühjahr 2015 erstarkten die Taliban unerwartet in den an Tadschikistan grenzenden Provinzen Badachschan und Kundus. Im Herbst gelang es ihnen, die Provinzhauptstadt Kundus unter ihre Kontrolle zu bringen. Das US-amerikanische Militär konnte die Taliban zwar unter Einsatz von Artillerie und Luftwaffe wieder zurückzudrängen. Doch dieser Überraschungsangriff hat gezeigt, dass auch nach 14 Jahren andauernder Präsenz ausländischer Truppen in Afghanistan die bewaffnete Opposition nicht besiegt werden konnte.
Russische Waffen gegen die Taliban
Das Auftauchen größerer, aus mehreren tausend Kämpfern bestehenden Verbände der Terroristen in den Grenzregionen kann Russland und dessen Bündnispartner in der GUS und der OVKS, der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, nicht unberührt lassen. Gegenwärtig werden gemeinsame Sicherheitseinheiten dieser beiden Organisationen geschaffen, um gegen Grenzüberschreitungen der Terroristen vorgehen zu können. Das aktuelle Beispiel Syriens zeigt, dass Moskau bereit ist, sich selbst in den entferntesten Regionen für den Kampf gegen den Terror zu engagieren. In Afghanistan hat Russland in der Vergangenheit bereits Waffen an die Nordallianz geliefert, die in den Neunzigerjahren gegen die Taliban kämpften. Nun hat sich Kabul erneut hilfesuchend an Moskau gewandt.
Es geht dabei nicht um die Entsendung russischer Soldaten. Die afghanische Armee bittet um Hubschrauber und Waffen, wie sie bereits bis zum Beginn der Sanktionen gegen Russland zum Einsatz kamen. Bis dahin hatte Russland im Auftrag des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums Hubschrauber ins Land geliefert. Anfang Oktober dieses Jahres schickte Russland nun wieder großkalibrige Schusswaffen und nahm mit der afghanischen Regierung Verhandlungen über die Lieferung von Kampfhubschraubern des Typs Mi-35 auf. Die jüngste Erklärung zum offensichtlichen Hilfegesuch erfolgte vor dem Hintergrund des inoffiziellen Besuchs des afghanischen Vizepräsidenten Abdul Raschid Dostum, geht jedoch eindeutig über den Rahmen normaler Handelsbeziehungen hinaus.
Druck auf Washington?
Für Kabuls Versuche, Beziehungen zu Russland auszubauen, gibt es mehrere Gründe. Erstens existiert eine objektive Nachfrage nach russischen Waffen, und diese nimmt gegenwärtig in der ganzen Welt zu. Die Maschinenpistole AK-47 ist in der Handhabung nicht so anspruchsvoll wie vergleichbare Modelle aus den USA, und die russischen Hubschrauber der Modellreihe Mi sind häufig besser für den Einsatz im Gebirge geeignet als die Helikopter der Nato. Daher kauften die USA zur optimalen Unterstützung der afghanischen Armee vor Beginn des „Sanktionskrieges“ Waffen und Hubschrauber bei russischen Herstellern.
Zweitens könnte es sich hier auch um ein „diplomatisches Spiel“ handeln. Inzwischen hat der Enthusiasmus der USA und ihrer Partner, Afghanistan zu unterstützen, merklich nachgelassen. Gleichzeitig aber kommt der Staatshaushalt des Landes nicht ohne ausländische Finanzspritzen und Kredite aus. Müsste Afghanistan auf diese Geldquellen verzichten, wäre die Finanzierung vieler Infrastrukturprojekte gefährdet. Deshalb könnte hinter dem Hilfegesuch an Russland auch der listige Plan stecken, auf Washington Druck auszuüben, die finanzielle Unterstützung wieder zu verstärken.
Die Sympathie für Russland nimmt indes übrigens auch bei den afghanischen Eliten zu. Vizepräsident Dostum wandte sich schon früher über die Presse an Russland mit der Bitte, den Kampf gegen die Taliban im Norden des Landes zu unterstützen. Der ehemalige Präsident Hamid Karzai war im letzten Jahr seiner Amtszeit ebenso bestrebt, die Beziehungen zu Moskau zu verbessern. So erkannte er unter anderem die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation öffentlich an, ungeachtet der Kritik seitens der westlichen Partner Afghanistans.
Russlands geopolitischer Einfluss wächst
Zu guter Letzt besteht auch die Möglichkeit, dass hinter Kabuls Annäherungsversuchen in Richtung Moskau keine militärischen oder wirtschaftlichen Überlegungen, sondern politisches Kalkül steckt. Im Gegensatz zu den USA, die auf die Vernichtung der Oppositionskräfte und Verhandlungen mit einzelnen Milizenführern gesetzt haben, streben Russland und China eine Schwächung der Extremisten durch eine Zerschlagung ihrer Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst an. Pakistan setzt die Taliban im Kampf gegen Indien ein, um seinen Einfluss in Afghanistan zu verstärken. Auch Washington unternahm Versuche, sich mit Islamabad zu einigen, erlitt jedoch dabei ein Fiasko.
Eine Wendung nahm der Prozess allerdings, als Indien und Pakistan Mitlieder der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit wurden: Unmittelbar darauf nahmen afghanisch-pakistanische Gespräche ihren Anfang, und aus den Nordregionen Pakistans verlautete es, die Regierung habe mit der Zurückdrängung von terroristischen Gruppierungen nach Afghanistan begonnen, indem ihnen die Rückzugsgebiete entzogen wurden.
Der Anteil jedes einzelnen der oben aufgeführten Motive bestimmt, wie ernst das anti-terroristische Bündnis zwischen Kabul und Moskau gemeint ist und wie lange es bestehen wird. Aber allein der Versuch, eine solche Allianz zu schmieden, verdeutlicht die zunehmende Bedeutung Russlands im Nahen Osten und seinen zunehmenden direkten und indirekten Einfluss auf die Staaten in der Region.
Nikita Mendkowitsch ist Politologe und Mitglied des Russischen Rats für internationale Angelegenheiten sowie Experte für Afghanistan und die Länder Zentralasiens.
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