Der für das gesamte Jahr 2015 erwartete reale BIP-Rückgang von fünf Prozent geht mit einer Inflation von mindestens 16 Prozent einher. Dennoch ist Russland – entgegen allen Erwartungen westlicher Ökonomen – von einem wirtschaftlichen Kollaps weit entfernt. Das Land verfügt über Reserven, die seine Stabilität selbst beieiner jahrelangen Rezession erhalten können.
Um die Entwicklung für das nächste Jahr vorauszusagen, lohnt sich ein Blick zurück. Schon vor dem Jahr 2000 wies Russlands Wirtschaft Merkmale einer Rentenökonomie auf. Vor 2008 floss dabei ein recht hoher Anteil der Petrodollars in Investitionen. Dieser fiel jedoch zu Beginn 2009 abrupt. 2012 erreichte die Kapitalflucht – angesichts enttäuschter Demokratisierungshoffnungen – ein größeres Volumen als der Überschuss der Han- delsbilanz. Eine zunehmende Monopolisierung der Wirtschaft verursachte eine stabil hohe Inflation. Die Regierung löste das Problem auf einfache Weise: durch Lohnsteigerungen im aufgeblähten Staatssektor (über 38 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung) und ineffektive Ausgaben. 2013 verzeichneten die Löhne bei nahezu stagnierendem BIP zweistellige Zuwächse. Dieses Ungleichgewicht führte zu verstärktem Import und zunehmendem Handelsanteil am BIP – der mit 30 Prozent fast doppelt so hoch war wie in den USA.
Der Ölpreissturz 2014 war ein Schock, der mit der laufenden Stag-nation zusammenfiel. Auf den Schock reagierte der aufgeblasene Konsum. Der Einbruch des BIP geht größtenteils auf die Korrektur des Imports, der Haushalts- und Unternehmensausgaben zurück. Eben dies ermöglichte Russland einen sanften Übergang zur Stagnation. Die vernünftige Zentralbankpolitik erhielt dabei die Währungsreserven des Landes, ließ eine 50- prozentige Rubel-Abwertung zu und kurierte damit in weniger als einem Jahr Russlands andauernde „holländische Krankheit“.
Anfang 2016 hat das Land die Folgen des Ölschocks überwunden. Die Währungsreserven entsprechen dem Import von zwei Jahren, mit stabiler Landeswährung und langsam weichender Inflation. Doch die Auswirkungen der Wirtschaftspolitik der letzten fünf Jahre sind geblieben: Russland ist weiterhin eine Rentenökonomie, in der zwei Prozent derErwerbstätigen 45 Prozent des BIP generieren. Russland steckte den „Öl-Schlag“ weg und setzte seinen Kurs langjähriger Stagnation fort, auf einem niedrigeren Niveau. Hinzukommt, dass Russlands Außenpolitik einen Teil der potenziellen Investoren verschreckt.
In dieser Lage wählt Moskau das einfachste Programm: keine Veränderungen. Russlands Haushalt für 2016 ist bereits vielfach diskutiert worden. Als Stagnationshaushalt, als letztes Budget, bezeichnen böse Zungen die russischen Staatsfinanzen. Die Einnahmen bewegen sich auf dem Niveau von 2006/2007, bei Ausgaben auf dem Niveau von 2008. Der Haushaltsentwurf lässt keine Wachstumsimpulse erkennen. Der Rebound, samt einer sprunghaften Inflation, steht Russland noch bevor – und eine Finanzkrise aufgrund zunehmender Schwäche der Schuldner. Im Bausektor erwartet das Land einen Einbruch nach Fertigstellung alter Projekte, genauso wie Pleiten in der Reisebranche, in der Logistik und im Einzelhandel. Doch lässt man das außen vor, ist denkbar, dass Russ- lands BIP ohne Reformen den Stag-nationskurs von 2012 bis 2014 fortsetzen und um 2,5 Prozent oder mehr zurückgehen wird. Die Besteuerungsbasis der Unternehmen fällt dabei um die seit 2012 standardmäßigen zehn bis 15 Prozent. Doch dieses Szenario berücksichtigt die Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft nicht und ist daher eher ein Worst Case.
Ein weiterer Aspekt ist die illusorische Verringerung der Ölabhängigkeit für den Haushalt 2016. In Brent-Barrel gemessen betrugen die Staatseinnahmen 2011 4,07 Milliarden Barrel, 2014 waren es 4,05 Milliarden, für 2015 werden 4,16 Milliarden erwartet, für 2016 werden – vom aktuellen Ölpreis und Dollarkurs ausgegangen – 4,3 Milliarden Barrel veranschlagt. Selbst diese optimistischen Prognosen ergeben eine Differenz von lediglich sieben Prozent zwischen dem geplanten Haushalt und den Budgets der letzten Jahre. Die Korrelation zwischen den föderalen Finanzen und dem Ölpreis ist leicht zu erklären: Am Öl hängen nicht nur die direkten Steuereinnahmen, son-dern auch das Importvolumen, dieEinkommenssteuern der Mitar- beiter und die Gewinne der Ölpro- duzenten.
Zweifellos wird Russlands Wirtschaft 2016 weiter schrumpfen. Und zusätzlich einige unangenehme Überraschungen erleben, wie Ban kenpleiten. So steht die Führung zusehends vor einem Dilemma: entweder die Steuern für die restlichen Unternehmen und Privatpersonen erhöhen oder rigoros im Sozialbereich kürzen. Letzteres kann in eine Welle von Unzufriedenheit umschlagen. Unter diesen Umständen wird es für die Regierung im-mer schwerer, an den eigenen Prinzipien des freien Kapitalverkehrs und Wechselkurses sowie der rigiden Geldpolitik festzuhalten.
Für 2016 reichen die Reserven jedenfalls noch. Unweigerlich wird es im Dunstkreis des Kremls zu Machtkämpfen kommen. Es gibt Einflussgruppen, die an geschlossenen Märkten und unkontrollierter Liquidität verdienen können. Andere brauchen die Globalisierung und Auslandsinvestitionen. Zweifelsohne werden wir erfahren, wer siegen wird. Nur nicht im kommenden Jahr.
Der Autor ist Leiter der Abteilung Wirtschaftspolitik am Carnegie-Center in Moskau.
Dmitrij Medwedjew, Ministerpräsident der Russischen Föderation:
Ich halte es für realistisch, wenn wir 2016 von einer Halbierung der Inflation auf etwa 6,4 Prozent ausgehen. Die pessimistischsten Prognosen zum BIP sagen ein Nullwachstum voraus, die optmistischsten etwa ein Prozent. Die Bewertungen sind unterschiedlich, aber wir haben eine Basis für ein stabiles, wenn auch sehr geringes Wachstum.
Alexej Uljukajew, Russischer Wirtschaftsminister:
Das Wachstum wird im kommenden Jahr bei einem Prozent liegen. Auf dem gleichen Niveau wird sich in etwa auch das Plus der industriellen Produktion befinden. Im laufenden Jahr wird das BIP um 3,7 Prozent schrumpfen, bei einer Inflation im Bereich von 12,5 Prozent. Darüber hinaus wird der Kapitalabfluss unter 70 Milliarden US-Dollar bleiben und damit geringer ausfallen, als wir erwartet haben.
Elwira Nabiullina, Vorsitzende der russischen Zentralbank:
Die Wirtschaft wird es nächstes Jahr nicht ins Plus schaffen. Das Wachstumstempo wird bei minus ei-nem Prozent bleiben. Allerdings gibt es auch positivere Szenarios. Die Prognosen könnten nach oben revidiert werden, sollte der Ölpreis wieder anziehen. Erst zum Jahresende wird es wieder Wachstum geben. Diese Berechnungen beruhen auf einem Ölpreis von 50 US-Dollar pro Barrel der Sorte Brent.
German Gref, Vorsitzender der Sberbank:
Im nächsten Jahr wird es wieder eine Rezession geben. Sollte sich im Hinblick auf Reformen nichts ändern, wird die Wirtschaft immer schwächer. Die Kri-se verlangt nach Veränderungen in allen Branchen. Jeder Tag, an dem nichts geschieht, verlängert die Krise. Vor allem das System der staatlichen Verwaltung muss reformiert werden.
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