Anschlag in Nizza: Die innere Bedrohung

EPA
Erneut gab es einen Anschlag, wieder waren die Sicherheitsbehörden machtlos. Europa muss seine Grundwerte überdenken – was ist wichtiger: Freiheit oder Sicherheit? Der Außenpolitik-Experte Fjodor Lukjanow erklärt, wie der Terror Europa verändert.

Erneut ist Frankreich Ziel eines brutalen Terroranschlags geworden. Diesmal ist ein Lkw als Waffe gegen eine Menschenmenge eingesetzt worden. Die Tat hat eine doppelte Symbolwirkung: Der wichtigste Nationalfeiertag der Franzosen und der noble Ferienort sind ein Sinnbild für dekadente Entspannung.

Sicherheit muss neu gedacht werden

Als im vergangenen März Explosionen Brüssel erschütterten, erklärte der französische Präsident François Hollande solidarisch, Frankreich befinde sich im Kriegszustand. Damals habe ich vermutet, dass sich hinter der lauten Ankündigung nur wenig verbirgt – schließlich bedeutet Krieg die radikale Abkehr von gewohntem Verhalten und vertrauten Erklärungsmustern.

In der Tat steht die Reaktion der Europäer im direkten Gegensatz zu der des französischen Präsidenten: „Wir lassen uns von den Verbrechern nicht zwingen, auf unsere Lebensweise und unsere Werte der Offenheit und Toleranz zu verzichten“, lautet der gesellschaftliche Konsens. Die Häufigkeit des Horrors und die offensichtliche Hilflosigkeit der Sicherheitsbehörden zeigen jedoch, dass die dramatische Entwicklung ohne eine Auseinandersetzung mit den Grundfesten der europäischen Gesellschaft nicht aufzuhalten ist.

Eine „Israelisierung“ der Gesellschaft – das heißt, das gesellschaftliche Leben den Sicherheitsinteressen unterzuordnen – scheint unausweichlich zu sein. Dafür müssen die damit verbundenen Veränderungen jedoch durch ein Konzept begründet werden. Israel hat es in dieser Hinsicht leichter: Dort sind Generationen in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass Sicherheit vorrangig ist, weil das Land sich dauerhaft im Krieg gegen seine Nachbarn befindet. Das Europa der Gegenwart baut auf grundsätzlich anderen Prinzipien auf.

In hohem Maße absurd sehen vor dem Hintergrund des Terrors in Nizza die Eigenlob-Hymnen aus, die auf dem jüngsten Nato-Gipfel in Warschau erklungen sind. In einer titanischen Willensanstrengung habe die Allianz Polen und die Länder des Baltikums vor der russischen Aggression geschützt, indem sie ganze vier Bataillone dort auf Rotationsbasis stationiert habe.

Die Freude der Nato über die eigene Entschlossenheit mutet ohnehin sonderbar an: Sind Sicherheitsgarantien für die Mitglieder der Allianz nicht selbstverständlich, auch ohne feierliche Erklärungen? Nach dem Anschlag in Nizza sehen die Nato-Beschlüsse wie ein Versuch aus, den Schlüssel zur Lösung des Problems dort zu finden, wo man am einfachsten danach suchen kann – statt dort, wo man ihn verloren haben könnte.

Das Ende des Europas, wie wir es kennen

Für die Europäer am meisten schockierend ist die Tatsache, dass eine immer größere Bedrohung aus dem Inneren ausgeht. Nahezu alle großen Anschläge seit 2000 wurden von Bürgern der jeweiligen Länder verübt. Die politischen Folgen liegen klar auf der Hand: Das Erstarken der radikalen Rechten setzt sich fort.

Die mit dem Terror und der Migration verbundenen Ängste – und im Bewusstsein des Durchschnittsbürgers sind dies zwei Seiten einer Medaille – sind eine Ursache für den (unerwarteten) Ausgang des britischen Referendums. Und anstehende Wahlen halten weitere Überraschungen bereit: Die Präsidentschaftswahlen in den USA im November und in Frankreich im Frühjahr, die Parlamentswahlen in Deutschland und den Niederlanden 2017, in Italien Anfang 2018.

In allen diesen Fällen – außer in Deutschland – ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass populistische Kräfte nicht nur erstarken, sondern an die Macht kommen. Jedenfalls ist eine Verschiebung der politischen Landschaft hin zum rechtskonservativen Lager so gut wie sicher. Die nächste Prüfung steht bei den erneuten Präsidentschaftswahlen in Österreich in zwei Monaten bevor – dann wird sich die Tendenz abzeichnen.

Nizza kann für die Debatte um die Zukunft der Europäischen Union, die die Brexit-Entscheidung ausgelöst hat, nicht ohne Folge bleiben. Das Zeitalter der Föderalisierung und der offenen Türen neigt sich dem Ende zu – so viel steht fest. Gedanken über eine allmähliche Reetablierung der Rechte und Möglichkeiten der Nationalstaaten werden wieder salonfähig. Auch das wichtigste Ministerkabinett Europas – das deutsche – samt der Bundeskanzlerin spielt mit dem Gedanken. Der Vorschlag Frank-Walter Steinmeiers und seines französischen Kollegen Ayrault zur rapiden Vertiefung der europäischen Integration zur Rettung Europas gleich am Tag nach dem Referendum ist ohne jede Unterstützung versandet.

Nicht ohne Grund: Wenn die Sicherheit das Denken bestimmt, werden Initiativen zur Abgabe der Verantwortung an einen supranationalen „Boss“ auf immer schneller zunehmenden Widerstand der Europäer stoßen. Unter außerordentlichen Umständen wollen Bürger wissen, wer die Verantwortung für ihre Sicherheit trägt. Die Unfähigkeit, heute vor der Terrorgefahr zu schützen, gleicht dem Unvermögen von vor 200 Jahren, die Freiheit und die Unabhängigkeit des Landes vor einem äußeren Feind zu schützen. Der Kampf gegen den Terror ist nicht länger das, was an äußeren Umständen hängt.

Was auch immer im Zweistromland geschieht – selbst eine Zerschlagung des Kalifats –, wird das Verhalten radikaler Islamisten in Europa, den USA oder sonst wo auf der Welt kaum beeinflussen. Der Kampf gegen den Terror wird immer mehr zu einem inneren Kampf – jedenfalls im Abendland. Einen Bürgerkrieg erklärt man nicht, er flammt von alleine auf. Und offensichtlich ist er schon im Gange.

Die ungekürzte Fassung des Beitrags er­­schien zuerst in Gazeta.ru.

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