Terror in Paris: Der 11. September kam zurück

Jean Jullien
Die vielen Appelle nach dem 11. September 2001 zum gemeinsamen Kampf gegen die globale Bedrohung blieben weitgehend ungehört. Nun muss die zivilisierte Welt die Fehler der letzten 15 Jahre aufarbeiten und neue Kooperationsformen schaffen.

Freitag, der 13. November, wird als der 11. September Frankreichs in die Annalen der Geschichte eingehen. Die „terroristische Internationale“ demonstrierte ihre Fähigkeit, eine Serie von Anschlägen zeitgleich in einer riesigen Metropole und an massiv frequentierten Plätzen – Straßen, Stadions, Konzertsälen – durchzuführen. Obwohl freier Waffenbesitz in Frankreich verboten ist, hatten die Terroristen nicht nur auf den in ihrem Milieu üblichen Sprengstoff, sondern auch auf Kalaschnikows Zugriff.

Auch ein zivilisierter demokratischer Staat mit bestens ausgestatteten und ausgebildeten Sicherheitskräften erweist sich gegen derart massive Anschläge als hilflos. Um Solches gänzlich – zu hundert Prozent – zu verhindern, muss sich die Gesellschaft, die Führung, das politische System ändern. Der Ausnahmezustand muss zur Lebensart werden. Doch auch dies wird kaum eine 100-prozentige Sicherheitsgarantie geben. Terroranschläge sind nicht einfach der Preis, den die Menschheit dafür zahlt, dass wir unterschiedlich sind. Sie sind auch ein Tribut an das gegenwärtige internationale System wirtschaftlicher und politischer Beziehungen, welches weder global noch lokal der Austilgung des Terrors zuträglich ist.

Jetzt, da die ganze Welt mit den Franzosen mitfühlt, müssen wieder die abgedroschenen Appelle zum gemeinsamen Kampf gegen die globale Bedrohung, wie der Terrorismus eine ist, bemüht werden. Wie viele dieser Aufrufe waren seit dem 11. September 2001 zu hören? Und wo bleibt das Ergebnis? Zerschlagen die Al-Qaida, ihr Anführer ausgeschaltet… Und doch sprießen ihre Zellen – fanatischer und bestialischer denn je – wie die Zähne eines Drachens empor.

Dort, wo hehren Plänen zufolge die Tyrannei säkularisierter Satrapen vom Schlage eines Saddam Hussein oder auch eines Baschar Assad durch Demokratien abgelöst werden sollte, entsteht vor unseren Augen ein terroristischer Quasi-Staat. Aus den westlichen Ländern selbst strömen Tausende Freiwillige in die Region, um für den IS zu kämpfen, für – wie sie meinen – eine neue Weltordnung. Diese Art von Gerechtigkeitsverständnis entstand aus der Ablehnung der Ungerechtigkeit des modernen Kapitalismus und der nach wie vor nicht eingetretenen wirklichen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, wie es die Losung der Französischen Revolution war.


Wir alle leben an der Frontlinie

Dass die Lage sich hin zu einem massiven Terroranschlag in Europa zuspitzen könnte, wurde in letzter Zeit immer deutlicher. Erst möglicherweise das russische Flugzeug über Sinai, dem viele nicht ohne Schadenfreude nachriefen, es sei die Rache für Putins Abenteuer in Syrien. Dann, vor zwei Tagen erst, der Doppelanschlag in einem schiitischen Viertel Beiruts – Dutzende Menschen starben. Die Terroristen des IS oder ähnlicher Organisationen rächten sich offensichtlich dafür, dass die schiitische Hisbollah in Syrien an Assads Seite kämpft.

Die Weltgemeinschaft zuckte nach den Ereignissen in Ägypten und Beirut zusammen, doch war die Resonanz natürlich nicht so, wie jetzt nach den Ereignissen in Paris. Ist ja auch klar: Es geschah in irgendeinem Beirut, an der Peripherie der „zivilisierten Welt“. Es gab auch nahezu keine internationale Resonanz, als einen Tag vor dem Pariser Massaker ein Sprengsatz in einer schiitischen Moschee in Jemen detonierte.

Spätestens jetzt müssen wir feststellen, dass wir alle im Kampf gegen den Terror an der Frontlinie leben: Nous sommes – wir alle – sind diese Peripherie. Dass die fanatischen Mörder den Menschen in Paris „Das ist für Syrien!“ zuschrien – bedeutet keineswegs, dass etwa Großbritannien, welches sich der Solidarität mit der US Air Force bislang enthält, vor derartigen Anschlägen sicher ist.

Selbstverständlich wird die erste Reaktion der Europäer und insbesondere der Franzosen Grenzschließungen und die fieberhafte Erhöhung aller erdenklichen Sicherheitsmaßnahmen sein. Viele werden sich natürlich auch an die jüngsten Warnungen im Zusammenhang mit der Flüchtlingswelle aus dem Nahen Osten erinnern: Es sei doch irgendwie verdächtig, dass so viele junge, kräftige und alleinstehende Männer nach Europa kommen. Unter den rund eine Million Flüchtlingen seien 25 000 islamistische Kämpfer, sagte vor kurzem der Chef der russischen Präsidialverwaltung Sergej Iwanow.

Der 11. September kam zurück. Alle, die sich für einen Teil der zivilisierten Welt halten, müssen nicht nur verstehen, was wir in den letzten 15 Jahren des scheinbaren Kampfes gegen den Terror falsch gemacht haben, sondern auch neue Kooperationsformen erschaffen. Auch zwischen Russland und dem Westen. Es ist dabei wichtig, alle Gegensätze beiseite zu räumen, einschließlich derer in der Syrien-Krise und – es mag vielen inakzeptabel erscheinen – auch in der Ukraine-Frage, die wie kaum ein anderer Konflikt eine Politik der Doppelmoral hervorrief. Dies alles sorgte dafür, dass viele unsere gemeinsame Zugehörigkeit zu der einen christlich-jüdischen Zivilisation, die heute vor ihrer größten Herausforderung in der neuesten Geschichte steht, vergessen haben. Es bleibt die bittere Erkenntnis: Wenn wir nicht endlich etwas tun, werden die Terror-Fanatiker beim nächsten Mal erneut weitaus geschlossener vorgehen, als die gesamte sogenannte zivilisierte Welt.

Der Autor Georgij Bowt ist Politikwissenschaftler und Mitglied des Rates für Sicherheits- und Außenpolitik, eines unabhängigen Moskauer Think Tanks.

 

 

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