Kann eine Armee die Europäische Union retten?

Dass Militarisierung als Lösung angesehen wird, ist beunruhigend.

Dass Militarisierung als Lösung angesehen wird, ist beunruhigend.

Reuters
Deutschland und Frankreich haben die Idee einer europäischen Armee ins Spiel gebracht. Dahinter steckt der Versuch, Europa vor dem Zerfall zu bewahren. Es wäre ein Akt der Verzweiflung, der genau das Gegenteil bewirken könnte.

Eines der Hauptergebnisse des informellen EU-Gipfels, der am Samstag in Bratislava stattfand, war die Diskussion zur Bildung eines vereinigten Kommandostabs der europäischen Streitkräfte, der „europäische Armee“. Beim nächsten Treffen im Dezember wird die EU-Staatschefs dieses Projekt wohl untereinander abstimmen.

Für den unbedarften russischen Beobachter erscheint die Schaffung einer neuen Militärstruktur in Europa ganz klar als eine Warnung an Russland und der Versuch, eine neue Etappe des Wettrüstens in Europa einzuleiten. Zumal das Heer der Kreml-freundlichen Experten dies gleich zum Anlass nahm, über die neue anti-russische Intrige des Westens zu räsonieren.

Analysiert man aber die Reaktionen auf das Projekt „europäische Armee“ eben jener EU-Staaten, die tatsächlich über eine vermeintliche Unberechenbarkeit des Nachbarn im Osten besorgt sind, ist offensichtliche Skepsis zu erkennen. Die baltischen Staatsführer äußerten sich auf dem britischen Gipfel unisono für eine weitere Stärkung der Nato als wirksamstes Mittel, um Russland zu bremsen.

Die europäische Armee rettet die Integration

Offensichtlich wollen Frankreich und Deutschland, die Initiatoren des Projekts, lediglich versuchen, die Angst vor Russlands Unberechenbarkeit und Aggressivität zu nutzen, um den ins Stocken geratenen oder sich gar umkehrenden Integrationsprozess zu reanimieren. Betrachtet man Merkels und Hollandes Vorschlag aus dieser Sicht, sieht das Bild ganz anders aus – frei von Militarismus und Russophobie, nur politisches Kalkül und die Suche nach einem Weg aus der Sackgasse.

Das Problem ist nicht, wie die europäische Armee auf Krisensituationen reagieren könnte, sondern welcher politische Schaden bei einem Scheitern des Projekts entstehen würde. Es gab schon viele Versuche, eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur zu schaffen, die aber alle wegen der Inkompatibilität zu den Nato-Strukturen scheiterten. Ein weiteres Versagen in der jetzigen Krisensituation könnte sich für die Europäische Union als fatal erweisen. Auch der Fakt selbst, in der Bildung eines vereinigten Militärkommandos die ultima ratio bei der Rettung der EU zu sehen, ist zutiefst beunruhigend.

Militarisierung ist der Weg in den Krieg

In den vergangenen Jahren haben sowohl Europa als auch Russland sich unablässig auf einen Paradigmenwechsel in puncto Verteidigung und Sicherheit hin entwickelt: Der Diskurs über Abrüstung und Entspannung ist endgültig einem Diskurs über Konflikte und Militarisierung gewichen. Man könnte jetzt endlos darüber streiten, wer diesen Stein ins Rollen gebracht hat, ob nun der Westen mit seiner Idee einer Nato-Erweiterung oder Russland mit seiner Ukrainepolitik, Tatsache bleibt: In der gegenwärtigen internationalen Realität wird die Bildung verschiedenartiger militärischer Strukturen in den Augen von Politikern fast zum einzigen denkbaren Faktor für eine Bewegung nach vorn.

In der EU versucht man, die europäische Integration mithilfe eines mächtigen gemeinsamen Generalstabes zu retten, und in Russland erklärt Wladimir Putin, dass nur die Entwicklung der Rüstungsindustrie die einheimische Wirtschaft aus der Krise heraus führen kann. Es sei daran erinnert, dass die Krise, die zum Zweiten Weltkrieg geführt hat, mit einem Effektivitätsnachweis der Rüstungsindustrie und einer Militärkonsolidierung angesichts ökonomischer und politischer Probleme begonnen hatte.

Italien, Deutschland, Japan, die UdSSR, die USA und Großbritannien durchliefen nacheinander alle eine Phase, die man als „produktiven Militarismus“ bezeichnen kann: die Erfolge im Militärbereich führten zu Wirtschaftsaufschwung, Einkommenszuwachs und gefühlter nationaler Einheit, endeten aber im blutigsten Krieg der Geschichte. Daran sollte man sich erinnern und nicht auf Militärinitiativen als Triebkraft für alle Gesellschaftsbereiche, sei es die Wirtschaft oder die Integration, hoffen.

Die Armee kann die Einheit der EU nicht retten

Die Wirtschafts- und militärpolitische Krise hat noch lange nicht ihr Ende gefunden und lässt alle Akteure auf altbewährte Methoden zurückzugreifen. Keiner redet mehr vom „neuen Russland“, und niemand rechnet offenbar noch mit einer erfolgreichen Fortführung des europäischen Integrationsprojekts. Das Hauptmotiv, das immer weiter hinter der Idee einer europäischen Armee hervortritt, lautet: das Erreichte bewahren und konservieren, die Fliehkräfte zügeln und eine neue Grundlage für die innereuropäische Einheit finden.

Sollte sich aber zeigen, dass die Europäer ihren Integrationswillen wirklich verloren haben und eine Besinnungspause einlegen müssen, führt auch eine europäische Armee nicht zur Konsolidierung. Zumal das Versprechen, die „Alte Welt“ militärisch zu verteidigen, niemand besser als die Nato einzulösen vermag, selbst wenn Trump, der kein begeisterter Anhänger dieses Bündnisses ist, Präsident werden sollte.

Dr. Iwan Zwetkow ist Lehrbeauftragter bei School of International Relations der Sankt Petersburger Staatsuniversität. 

Die ungekürzte Fassung dieses Beitrags erschien zuerst auf Russia Direct

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