Poroschenkos Pläne zur Verfassungsänderung lösten Unruhen aus.
Alex Vovk/Ria NovostiVor dem Parlamentsgebäude in der ukrainischen Hauptstadt Kiew kam es zu schweren Ausschreitungen, nachdem die Werchowna Rada am 31. August in erster Lesung die von Präsident Petro Poroschenko vorgeschlagene Verfassungsreform über die Dezentralisierung der Ukraine verabschiedet hatte. Bei den Zusammenstößen zwischen Einheitsbefürwortern und Sicherheitskräften kamen drei Nationalgardisten ums Leben. Und auch in der Regierung gibt es Unruhe. Die „Radikale Partei“ von Oleh Ljaschko zog sich aus der Regierungskoalition zurück. Sie hatte gegen die Verfassungsänderung gestimmt. Dennoch bezweifeln Politikbeobachter, dass es in der Ukraine erneut zu Massenprotesten wie 2013 und 2014 auf dem Kiewer Maidan kommen wird.
Die Regierungskrise in der Ukraine, die nun seit Ende 2013 andauere, verschärfe sich im Augenblick, meint Boris Schmelew, Leiter des Zentrums für Politikforschung am Wirtschaftsinstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften. Zusehends verstärke sich der Kampf zwischen den ukrainischen Oligarchen um Einfluss und den Zugang zum „Finanztopf“, den der Staat kontrolliere. Zugleich würden sich politische Gegensätze innerhalb der Regierungskoalition und zwischen den Parteien verschärfen, so Schmelew. In der Bevölkerung wachse zudem die Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Situation.
Schmelew hält verschiedene Krisenszenarien für möglich, am wahrscheinlichsten sei jedoch, dass Präsident Poroschenko versuchen werde, die Macht in seinen Händen zu konzentrieren, die politische Kontrolle zu verschärfen und den Druck auf seine Gegner zu erhöhen. Zu diesen zählten vor allem der „Oppositionelle Block“ und die ehemaligen Verbündeten im zweiten Maidan, die Radikalen des „Rechten Sektor“. Poroschenko verfüge über finanzielle und administrative Ressourcen und genieße zudem die Unterstützung des Westens, glaubt Schmelew und sieht daher gute Erfolgsaussichten für Poroschenko, seine Gegner zu besiegen. Die Kampagne gegen Russland und die selbsternannten Volksrepubliken im Osten der Ukraine werde Poroschenko fortsetzen, um die eigene Bevölkerung von ihren wirklichen sozialen und wirtschaftlichen Problemen abzulenken, ist Schmelew überzeugt.
Boris Kagarlizkij, Leiter des Instituts für Globalisierung und soziale Bewegungen, hält eine Zunahme von Konflikten in der Ukraine für wahrscheinlich. In den nächsten Jahren werde es allerdings keine grundlegenden Veränderungen geben. „Die chronische und stabile Reproduktion der Instabilität ist ein Wesensmerkmal der heutigen Ukraine“, sagt Kagarlizkij. Um dieser Tendenz ein Ende zu bereiten, müsse in der Ukraine zunächst eine politische Kraft aufkommen, die dazu fähig wäre. Nach Meinung des Analysten sei die aktuelle politische Elite in der Ukraine wegen ihrer „Subjektlosigkeit“ nicht imstande, derartige Veränderungen einzuleiten. Die ukrainische Gesellschaft sei gelähmt. Ihr fehle eine soziale Gruppe, die ein ausgereiftes Konzept zur weiteren Entwicklung vorbringe, das von der politischen Elite vertreten werden könnte. Veränderungen könnten aus Kagarlizkijs Sicht nur von Kräften in Gang gesetzt werden, die außerhalb der politischen Lager angesiedelt sind, etwa Militärs oder externe, ausländische Akteure. Aber auch sie bräuchten Zeit, um aktiv zu werden.
Die aktuellen Ereignisse in der Ukraine würden unmittelbar mit dem Minsk-II-Abkommen zusammenhängen, betont der Ukrainer Andrej Jermolaew, Direktor des Instituts für strategische Forschung Nowaja Ukraina (zu Deutsch: Neue Ukraine). Die Vereinbarung sieht vor, dass eine Form des innerukrainischen Dialogs ausgearbeitet und eine politische Lösung des Konflikts im Donbass gefunden wird. Doch Kiew demonstriere nach wie vor fehlende Bereitschaft, ein vernünftiges politisches Verfassungskonzept anzubieten, meint Jermolaew. „Poroschenko ist in der aktuellen Situation gefangen. Er hat Angst um seine Zustimmungswerte. Die Notwendigkeit eines Dialogs sieht er sicherlich ein, aber er ist eine Geisel des Krieges“, sagt der Experte. Alle Hoffnungen, den Konflikt zu lösen, seien auf eine Dezentralisation gesetzt worden. Doch die halbherzigen Vorschläge des Präsidenten in diese Richtung hätten die ukrainische Politik gespalten. Unter diesen Umständen würden Frieden und der nationale Dialog zu rein symbolischen Phrasen verkommen. Als konkrete Themen würden sie gar nicht diskutiert.
Jermolaew betont die Bedeutung lokaler Wahlen, die in der Ukraine und im Donbass anstehen. In den selbsternannten Volksrepubliken werden die dortigen Machthaber die Durchführung kontrollieren. Die erwartete gegenseitige Nicht-Anerkennung dieser Wahlen wird nach Ansicht des Experten die Kluft zwischen Kiew und dem Donbass weiter vergrößern. Für die Zeit danach rechnet der Experte mit einer wesentlichen Verschärfung der Situation bereits im November. Die Frage „einer neuen politischen Gestaltung der Region, die die Ukraine verlässt, wird offen zu Tage treten“ und „das Risiko eines abchasischen Szenarios wird realistisch, wenn Verhandlungen zwischen Moskau, Donezk und Lugansk einsetzen werden“. Nach den Wahlen und „dem noch größeren Scheitern des Minsker Abkommens“ werde sich die Machtkrise in Kiew vertiefen, glaubt Jermolaew. Das zeichne sich bereits an der Koalition ab.
Im kommenden Jahr könnte es Neuwahlen geben. Zugleich wiesen die Bedingungen unter denen die Wahlen vorbereitet würden nach Einschätzung Jermolaews „bereits Merkmale einer kollektiven Diktatur“ auf: Die Parteien Poroschenkos und Jazenjuks hätten starke Machtpositionen errungen und unternähmen alles, um den Einfluss der Opposition möglichst gering zu halten. Doch diese Politik des alleinigen Machtanspruchs sei zum Scheitern verurteilt. Daher hält der Experte das Aufkommen neuer politischer Akteure in der Ukraine zum Frühjahr 2016 für wahrscheinlich.
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