Mit akutem Auftragsmangel hat Azovmash, einer der größten ostukrainischen Maschinenbauer aus Mariupol, zu kämpfen.
PressebildEs sind schwierige Zeiten, die die Stadt Mariupol derzeit durchlebt. Heute liegt die Hafenmetropole in unmittelbarer Nähe zur Grenze der selbst ernannten Volksrepublik Donezk. Ihre Bewohner haben ob des fragilen Waffenstillstands beinahe täglich Angst, dass der Konflikt im Osten der Ukraine auch in den Straßen ihres Heimatortes ankommt.
Dabei war Mariupol noch vor gut einem Jahr eine der wichtigsten Industriestädte des Landes. Ein Zentrum für Maschinenbau und Stahlerzeugung, eng vernetzt mit den anderen Industriezentren rund um die Regionalhauptstadt Donezk. Doch die Wirtschaftsmetropole ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Weil die Versorgung mit Kohle und Gas immer wieder unterbrochen wurde, stellte der größte Arbeitgeber der Stadt Asowstal mehrfach seine Arbeit ein. Im vergangenen Jahr sank die Produktion bereits um ein Fünftel. Im ersten Halbjahr dieses Jahres schrumpfte die Erzeugung um weitere elf Prozent zusammen.
Noch dramatischer ist die Lage bei einem der größten ostukrainischen Maschinenbauer: Azovmash. „Azovmash ist in einer katastrophalen Lage. Wir setzen alle Hebel in Bewegung, auch in Kiew im Regierungskabinett. Bislang ohne Ergebnisse. Wir müssen es hinnehmen, dass Ausrüstung und Maschinen bereits verschrottet werden. 11 000 Arbeitskräfte zählt die Belegschaft, nur 1 000 von ihnen sind wirklich beschäftigt", sagte im März dieses Jahres der Bürgermeister der Stadt Mariupol, in der das Werk steht. Mit akutem Auftragsmangel haben auch andere Maschinen- und Eisenbahnhersteller zu kämpfen. Um mehr als 80 Prozent ist die Produktion der Waggonbauwerke Krjukov und Stachanov eingestürzt.
Das Problem: Seit sich die Nachbarn Russland und Ukraine überworfen haben, brach der Handel zwischen den Ländern regelrecht ein. Gleichzeitig zählten russische Kunden, insbesondere für die Industriekonzerne im Donbass, zu den wichtigsten Abnehmern, vor allem im Industriegüterbereich. Innerhalb der vergangenen zwei Jahre hat sich das Handelsvolumen zwischen den beiden Ländern fast halbiert. Während die Ukraine sich dadurch vermeintlich unabhängiger von Russland gemacht hat und Russland nun verstärkt auf die Substitution ehemaliger ukrainischer Importgüter setzt, ist für Experten klar: Ein derart drastischer Rückgang des Warenaustauschs wirkt sich auf beide Seiten definitiv negativ aus.
Dabei schienen die Voraussetzungen für gute Handelsbeziehungen gar nicht so schlecht, nachdem beide Länder Anfang der 1990er-Jahre unabhängig wurden. Bereits 1994 wurde der zollfreie Handel zwischen den beiden Nachbarstaaten eingeführt. Später, im Jahr 2011, vereinbarten die GUS-Mitgliedsländer, einschließlich der Ukraine, ein multilaterales Freihandelsabkommen. 2012 wurde das Papier von ukrainischer Seite ratifiziert. Im selben Jahr erreichte das Handelsvolumen beider Länder ein Rekordniveau von knapp 40 Milliarden Euro – ein Höchstwert seit dem Zerfall der Sowjetunion.
Doch seitdem ging es stetig bergab. Zunächst wegen beidseitigen Handelsschranken, später wegen des militärischen Konflikts im Osten der Ukraine und des Streits um die Krim und des allgemein schwachen Wirtschaftswachstums in beiden Ländern. Der Warenumsatz brach innerhalb von zwei Jahren auf 23,65 Milliarden Euro ein. Um 38 Prozent (von 23,65 auf 14,75 Milliarden Euro) gingen russische Ausfuhren in die Ukraine zurück, Russland importierte 40 Prozent weniger ukrainische Waren, das Volumen sank von 15,65 auf 9,3 Milliarden Euro.
Die geopolitische Krise spitzte sich immer weiter zu. Umso höher wurden die Handelsbarrieren. Sowohl die Ukraine als auch Russland verschlossen die eigenen Märkte zunehmend vor dem Zugang des Anderen und bedienten sich dafür eines vielfältigen Instrumentariums. Die Ukraine beteiligte sich an den von Europa, den USA und anderen Ländern verhängten Sanktionen. Infolgedessen versiegten Investitionen in die Krim und im März vergangenen Jahres kam es zu einem Lieferstopp ukrainischer Militärtechnik nach Russland.
Russland verhängte seinerseits einen Einfuhrstopp für Milch und Milchprodukte, Käse, alkoholische Getränke, Fisch- und Gemüsekonserven, Sonnenblumenkerne, Sojabohnen, Mais, Kartoffeln, Schweine- und Rindfleisch sowie Süßwaren. Als Begründung dafür dienten zahlreiche Normverletzungen, die angeblich aufgedeckt wurden. Im Oktober 2014 schränkte die russische Landwirtschaftsaufsichtsbehörde Rosselchoznadzor zudem die Einfuhr von Obst und Gemüse aus der Ukraine ein. Dazu hieß es, der Import bestimmter Produkte, deren Herkunft aufgrund fehlender Etikettierung nicht nachvollziehbar gewesen sei, sei sprunghaft angestiegen. An den ukrainischen Ausfuhren nach Russland hatten landwirtschaftliche Erzeugnisse nach Angaben des russischen Zolls einen Anteil von 11,4 Prozent. Die Verluste ukrainischer Exporteure aufgrund der Einfuhrschranken beliefen sich also auf rund 1,4 Milliarden Euro.
Russland verhängte einen Einfuhrstopp für ukrainische Milch und Milchprodukte. Quelle: TASS/Maxim Nikitin
Ebenso werden russische Waren aus der Ukraine verdrängt. Ganze Supermarktketten verbannen russische Produkte aus ihrem Sortiment. Betroffen sind vor allem Drogerieartikel, Spirituosen, Tee und Milcherzeugnisse. In diesem Jahr wird zudem auf alle importierten Güter eine Sonderabgabe in Höhe von fünf bis zehn Prozent erhoben. Gehindert wird die russische Wirtschaft auch an Investitionen in die Ukraine. So kündigte Präsident Petro Poroschenko stärkere Kontrollen bei der „Erfüllung von Investitionsverpflichtungen" an, im Blick seien dabei auch soziale Verpflichtungen und Insolvenzverhinderungen. Im Februar dieses Jahres wurden bereits 160 russischen Firmen die Lizenz zur unternehmerischen Tätigkeit in der Ukraine entzogen.
Doch nicht nur die Handelsbilanz ist geschrumpft. Auch die Struktur des Handels hat sich verändert. Nach Angaben des Moskauer Zentrums für Internationalen Handel büßte der ukrainische Export von Lokomotiven und Eisenbahnwaggons am deutlichsten ein – um satte 80 Prozent. Dieser Wirtschaftszweig hält am Gesamthandel nur noch sechs Prozent, er ist also um das Dreifache zurückgegangen. Um 50 bis 80 Prozent sanken die Ausfuhren ukrainischer Maschinenbauer nach Russland. Die Produktpalette ist vielfältig: Anlagen für Atomkraftwerke (Kessel und Reaktoren), Strahltriebwerke und Propellerturbinen, Pumpen und Gefrieranlagen. Vergleichbare Einbußen musste mit 60 Prozent auch der Elektroanlagenbau hinnehmen – nach Russland geliefert werden vor allem Transformatoren und Generatoren. Um mehr als ein Drittel gingen die Ausfuhren von Eisen und Eisenmetallerzeugnissen zurück.
Erhebliche Veränderungen macht auch der russische Export in die Ukraine durch. Zwar überwiegt der Rohstoffsektor mit einem Anteil von 70 Prozent nach wie vor, doch sind die Ausfuhren petrochemischer Produkte im vergangenen Jahr um ein Drittel, von Elektronik um 50 Prozent geschrumpft, hier sind es vor allem die Samsung-Flachbildfernseher aus russischer Produktion. Ein Minus von 45 Prozent ist bei Düngemittel festzustellen. Alles in allem fiel der Exportanteil von Fertigwaren in die Ukraine seit 2011 von 55 auf 40 Prozent. Zu den schlechten Beziehungen gesellt sich der wirtschaftliche Niedergang der östlichen Industrieregionen. „Dass Russland vor allem in den östlichen Teil der Ukraine exportierte, ist historisch bedingt. Im Westen des Landes sind vor allem westliche Länder präsent", heißt es in einer Untersuchung des Moskauer Zentrums für Internationalen Handel.
Nach Ansicht von Experten hat die negative Dynamik im Außenhandel auch einen positiven Effekt: Die Importsubstitution werde stimuliert. Davon profitieren vorrangig die Nahrungsmittelindustrie – allein die Käseherstellung ist in Russland um 30 Prozent gestiegen – und die metallverarbeitenden Unternehmen, Rohrleitungshersteller beispielsweise. So stellten die Stahlwerke Vyksa, ein Tochterunternehmen der Vereinigten Metallwerke AG, 1,8 Millionen Tonnen Rohrleitungen her, 20 Prozent mehr als 2013, wie ein Unternehmenssprecher mitteilte.
Von der Importsubstitution profitieren beispielsweise die Stahlwerke Vyksa, die 1,8 Millionen Tonnen Rohrleitungen herstellt – 20 Prozent mehr als 2013. Foto: Nikolai Moshkov/TASS
Umfragen des Gaidar-Instituts für Konjunkturforschung zufolge ist ein Fünftel der russischen Wirtschaft vom Nachfrageeinbruch auf ukrainischer Seite betroffen. Positive Effekte spüren dagegen deutlich weniger Unternehmer. So gaben sieben Prozent der befragten Unternehmen an, ihre ukrainischen Wettbewerber hätten die Absatzmärkte verlassen, drei Prozent der Befragten stellen die gleiche Entwicklung beim Rohstoffhandel fest. Stellt man den Rückgang der Einfuhren aus der Ukraine ins Verhältnis zum Produktionsanstieg in Russland, sieht man, dass die Substitution in diversen Industriezweigen einsetzt: Bei Kunststoffrohren und Schläuchen sind 40 Prozent der Importe bereits ersetzt, bei Stahl- und Eisenrohren 45 Prozent, bei Eisenerzeugnissen wie auch bei Fernsehgeräten 15 Prozent, in geringerem Maße zudem bei Halbleitern, Kunststoffen und Koks.
Im Sommer vergangenen Jahres startete ferner das Programm zur Substitution im Rüstungssektor, weil Kiew zu den wichtigsten Lieferanten für die russischen Waffenschmieden gehört hatte. Bis zu 200 verschiedene Erzeugnisse an ukrainischer Militärtechnik können die heimischen Unternehmen nun selbst herstellen. Und trotzdem müssen noch Importe aus dem Ausland herangezogen werden: Statt der ukrainischen Zielvorrichtungen für das Panzerabwehrsystem „Chrisantema" werden beispielsweise die „Peleng"-Systeme aus Belarus verwendet. Insgesamt seien rund 145 Millionen Euro notwendig, die Abhängigkeit von der ukrainischen Rüstungsindustrie zu überwinden, schätzte der Chef der russischen Raumfahrtagentur Roskosmos Anatolij Schilow.
In der ukrainischen Wirtschaft kommt der negative Effekt der Handelseinbrüche noch stärker zur Geltung. Der russische Anteil an der ukrainischen Handelsbilanz betrug 2013 27 Prozent, fiel jedoch im vergangenen Jahr auf 23 Prozent (22 Prozent bei den Ausfuhren, 25 Prozent bei den Einfuhren). Auf die EU-Länder hingegen entfallen 31,5 Prozent ukrainischer Exporte respektive 38 Prozent der Importe. Doch an einzelnen Ländern gemessen bleibt Russland der größte Handelspartner der Ukraine, zumal die ukrainischen Exporte in die Europäische Union trotz der Aufhebung von Zöllen an ihre Wachstumsgrenzen stoßen – europäische Normen und Anforderungen bleiben für ukrainische Produkte unerfüllbar. Vielerorts müsste die Produktion modernisiert werden, doch angesichts einer schweren Rezession erscheint das als Traumvorstellung. Laut der ukrainischen Statistikbehörde konnte lediglich der Einbruch bei Nahrungsmittellieferungen nach Russland durch neue Kunden aufgefangen werden: Im vergangenen Jahr sind die ukrainischen Agrarexporte insgesamt um drei Prozent gestiegen. Ansonsten sanken die Ausfuhren in den meisten Branchen.
Auch wenn der wirtschaftliche Teil des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der EU ohne weitere Verzögerung Anfang 2016 in Kraft tritt, dürften die Probleme des Landes damit kaum geringer werden. Arbeitsgruppen aus Russland, der Ukraine und der EU wägen gerade mögliche Risiken des Abkommens ab. „Wir treten dafür ein, ukrainische Lieferungen nach Russland durch Quoten zu regulieren", sagt der stellvertretende russische Wirtschaftsminister Alexej Lichatschew. So möchte Russland die Reexporte europäischer Güter, die aufgrund des Assoziierungsabkommens zollfrei in die Ukraine eingeführt werden, verhindern.
Ein weiterer Dorn im Auge der russischen Verhandlungsseite sind Zollbestimmungen und technische Standards. Gemäß dem Abkommen sollen ukrainische Produzenten europäischen Maßstäben angepasst werden. Von dieser Regelung betroffen wären auch die für den ukrainischen Markt bestimmten russischen Produkte. Weitere offene Fragen sind gemeinsame Hygienevorschriften und verstärkte Zollkontrollen hinsichtlich der Warenherkunft. Werden diese Fragen diplomatisch gelöst, kann von Handelserleichterungen ausgegangen werden. Andernfalls könnte Russland Handelszölle (Meistbegünstigungsprinzip) wiedereinführen, was für die Exporteure unweigerlich höhere Verluste nach sich ziehen und den Handel weiter schrumpfen lassen würde.
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