Nemzow-Mord: Ein Fall mit offenen Fragen

Die Anwälte der Familie Nemzow vermuten, dass die Verstrickungen bis hin zu Ramsan Kadyrow reichen.

Die Anwälte der Familie Nemzow vermuten, dass die Verstrickungen bis hin zu Ramsan Kadyrow reichen.

AP
Vor einem Jahr wurde der ehemalige Oppositionspolitiker und Russlands erster Vize-Premier Boris Nemzow an einem späten Abend im Herzen Moskaus erschossen. Das Ermittlungskomitee – Russlands überregionale Strafverfolgungsbehörde – hat den Fall für abgeschlossen erklärt. Doch sitzen wirklich alle Schuldigen auf der Anklagebank?

Fünf Verdächtige, die schon seit Langem in Untersuchungshaft sitzen, werden beschuldigt, an der Ermordung des Oppositionspolitikers Boris Nemzow am 27. Februar 2015 beteiligt gewesen zu sein. Als Drahtzieher hinter der Tat wird Ruslan Muchudinow vermutet. Medienberichten und Insidern zufolge ist dieser Mann der persönliche Chauffeur und Assistent von Ruslan Geremeew, einem Vertrauten des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow. Jedoch sind die Motive und der Aufenthaltsort des vermeintlichen Auftraggebers bislang unklar.

„Echter Patriot“ und „mutiger Kämpfer“

In ihrer endgültigen Fassung besagt die den Medien vorliegende Anklageschrift, dass der Mord an Nemzow seit Ende September 2014 geplant gewesen sei. Habgier sei das einzige Motiv des Auftragskillers und seiner Helfer gewesen: Muchudinow habe den Angeklagten 15 Millionen Rubel (damals rund 270 000 Euro) für den Anschlag versprochen. Den Mord unmittelbar ausgeführt habe der ehemalige Angehörige der tschetschenischen Sondereinheit „Sewer“ („Der Norden“), Saur Dadajew – ein Mann mit einer Vielzahl an staatlichen Ehrenauszeichnungen. Außer ihm seien, so die Ermittler, vier weitere Männer an der Ausführung der Tat beteiligt gewesen. Drei von ihnen seien ebenfalls ehemalige Sicherheitskräfte.

Nach Ermittlerversion kamen sie nach Moskau, beschatteten Nemzow und erschossen ihn, als er mit seiner Begleiterin, dem ukrainischen Model Anna Durizkaja, auf dem Rückweg vom Abendessen in einem Restaurant war. Am Tag darauf verließen die Angeklagten Moskau, wurden jedoch nur eine Woche später in Inguschetien gefasst. Ein sechstes Mitglied der Bande soll sich bei der Festnahme mit einer Granate in die Luft gesprengt haben.

Foto: Anton Denisov / RIA Novosti

Unmittelbar nach der Verhaftung der vier Männer meldete sich der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow auf seinem Instagram-Account zu Wort: Dort bezeichnete er Saur Dadajew als „echten Patrioten Russlands“ und als „einen der tapfersten Armeeangehörigen“. Den bei der Festnahme ums Leben gekommenen Beslan Schawanow nannte er einen „mutigen Krieger“.

Nach Ansicht von Freunden Boris Nemzows wie auch der Anwälte der Familie war das Vorgehen der Ermittlungsbehörde zunächst professionell. Im Mai vergangenen Jahres wurde jedoch der Chefermittler, ein Experte für nationalistisch motivierte Straftaten, gegen einen Spezialisten für tschetschenische Kriminalität ausgetauscht. Danach hätten die Kontakte zu den Kriminalbeamten an Intensität verloren und der Fall sei ins Stocken geraten, sagt Wadim Prochorow, Sprecher der Anwälte der Familie.

Weiße Flecken im aufgeklärten Fall

Nach der ersten Vernehmung und dem Geständnis Dadajews – das er wenige Tage später revidierte – mutmaßten die Medien, Ruslan Geremeew, der Kommandeur der Sondereinheit „Sewer“, sei der vermeintliche Organisator des Mordes gewesen. Laut Anklage werden jedoch lediglich Muchudinow „und weitere unbekannte Personen“ des Auftrags und der Organisation des Verbrechens bezichtigt.

Den Anwalt der Familie Nemzow überzeugt diese Version nicht: „Alle Verhafteten und Angeklagten sind Auftragsmörder“, glaubt Prochorow. Der Fahrer Ruslan Geremeew, der zur Fahndung ausgeschrieben wurde, könne persönlich nichts gegen Nemzow gehabt haben. Die Motive des Auftraggebers hat die Ermittlung nicht aufgeklärt. „Die 15 Millionen Rubel für den Auftragsmord hatte er bei seiner Verhaftung auch nicht. Demnach bleiben die Auftraggeber, die Organisatoren und ihre Motive weiterhin im Dunkeln“, sagt Prochorow.

Die Anwälte der Familie vermuten, dass die Verstrickungen bis hin zu Ramsan Kadyrow reichen. Sie forderten die Strafverfolgungsbehörde auf, den tschetschenischen Präsidenten und seine Vertrauten zum Sachverhalt zu befragen. Dieser erklärte, zu einer Vernehmung bereit zu sein, wenn dies den Ermittlungen nütze. Vorgeladen wurde er nicht.

An Habgier als einziges Motiv glaubt die Familie ebenfalls nicht. Nemzows Mitstreiter meinen, dass der Oppositionelle wegen seines zivilgesellschaftlichen Engagements ermordet worden sei. Nemzow hatte unter anderem schwere Kritik am Präsidenten geübt und Ermittlungen zu russischen Soldaten im Südosten der Ukraine aufgenommen.

Nur: „Warum sollte die tschetschenische Regierung einen Oppositionsführer um diese Uhrzeit an diesem Ort ermorden?“, fragt sich Ruslan Miltschenko, ein ehemaliger Sicherheitsbeamter und Leiter des Föderalen Informationszentrums Analyse und Sicherheit. Er glaubt, dass das Risiko eines politischen Auftragsmordes zu hoch ist. Denn im Kaukasus verstehe man sehr gut, welche Probleme ein derart aufsehenerregender Mordanschlag den russischen Machteliten bereiten würde.

Spezialeinheit „Sewer“

Das Bataillon wurde 2006 gegründet. Seine Mitglieder unterstehen dem direkten Befehl Ramsan Kadyrows. Die Medien bezeichnen die Sondereinheit als Kadyrows persönliche Leibgarde.

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